16.01.2020 | Preise und Scheidungen steigen

Chinas Boom und seine Folgen

Gesellschaftlicher und kultureller Wandel bei gleichzeitig rasanter wirtschaftlicher Entwicklung: Die südchinesische Präfektur Sipsong Panna vollzieht aktuell einen Transformationsprozess, der stellvertretend für viele asiatische Boomregionen gesehen werden kann. Sozialanthropolog/innen der ÖAW untersuchen nun, was dieser Transformationsprozess für die Menschen vor Ort bedeutet.

© Wikimedia Commons/ Chlukoe

"Die Lebensbedingungen in Sipsong Panna haben sich in Folge der China Open Door Policy stark verändert", erklärt Yu Wanjiao, die derzeit als Doktorandin am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) forscht. Wanjiao, die selbst aus der Region stammt, untersucht im Forschungsprojekt „Religion, Economy and Gender in the Upper Mekong Region“ aktuell besonders die Auswirkungen der Veränderungen auf die in der Region Sipsong Panna lebenden Frauen der Tai Lue – einer Minderheit in China.

Tourismusrenner „Little Thailand“

"Mit dem verstärkten Zuzug von Han-Chinesen in die Region kamen auch viele neue und frische Ideen in die Region, in gewisser Weise wurde dadurch der Horizont der Tai Lue erweitert. Es wurden große Kautschukplantagen angelegt und Sipsong Panna entwickelte sich als Little Thailand zu einem der beliebtesten touristischen Ziele in China", sagt Wanjiao.

Das Big Business ist in den Händen der Han-Chinesen und auch die Bedingungen und die Gesamtentwicklung werden von den Han-Chinesen vorgegeben.

Zwar hatten Frauen auch in der Vergangenheit bereits die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen und ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Doch es wurde nun für Angehörige der Tai Lue zunehmend lukrativ, eigene Geschäfte und Restaurants auch in den Städten zu eröffnen. Aber: "Es gibt eine Gläserne Decke", sagt Projektleiter Roger Casas. "Das Big Business ist in den Händen der Han-Chinesen und auch die Bedingungen und die Gesamtentwicklung werden von den Han-Chinesen vorgegeben." Dabei wirke es sich besonders negativ aus, dass die Tai Lue bisher keinen oder nur unzureichenden Zugang zu den Netzwerken der Han-Chinesen aufbauen konnten.

Bessere Ausbildung, höhere Wohnungspreise

Der aktuelle Transformationsprozess, der durch die Entwicklung des Projekts der Neuen Seidenstraße verstärkt wird, beeinflusst auch die persönliche Lebensplanung der Tai Lue, die in Sipsong Panna sogar die Bevölkerungsmehrheit stellen. "Viele junge Leute besuchen jetzt höhere Schulen in den Städten oder ziehen wegen der Jobs dorthin", sagt Yu Wanjiao. Oftmals sind sie dabei auf die finanzielle Unterstützung ihrer gut situierten Familien in den Dörfern angewiesen, denn Zuwanderung und wirtschaftliche Entwicklung haben auch eine Kehrseite. "Die Preise in den urbanen Immobilienmärkten sind mittlerweile dreimal so hoch wie noch vor drei oder vier Jahren, junge Menschen können sich ohne Unterstützung ihrer Familien keine eigene Unterkunft leisten", erklärt Yu Wanjiao.

Die Preise in den urbanen Immobilienmärkten sind mittlerweile dreimal so hoch wie noch vor drei oder vier Jahren, junge Menschen können sich ohne Unterstützung ihrer Familien keine eigene Unterkunft leisten.

Scheidungsraten steigen an

Die zunehmende touristische Vermarktung der Region führt auch zur Anpassung lokaler Traditionen und Festivals an die mitunter stereotypen Erwartungen der Han-Chinesen an die südostasiatische Kultur. Und auch vor dem Privatleben machen die Veränderungen nicht halt. "Die Scheidungsraten steigen seit einiger Zeit an", erläutert Yu Wanjiao, die diese Entwicklung unter anderem mit dem klischeehaften Vorbild des hart arbeitenden Han-Chinesen erklärt.

"Das gesellschaftliche System der Tai Lue war immer ein matrilineares System, es gab also immer einen hohen Grad an Selbstbestimmung für Frauen. Das ist ein großer Unterschied zum restlichen China", ergänzt Roger Casas. Die mittlerweile höhere gesellschaftliche Bedeutung von Geld und die Anwesenheit der das Business kontrollierenden Han-Chinesen führen dazu, dass Männer der Tai Lue nun viel stärker eine Erwartungshaltung ihrer Frauen spüren, ebenfalls erfolgreich zu sein und viel Geld nach Hause zu bringen.

 

AUF EINEN BLICK

Das Projekt "Religion, Economy and Gender in the Upper Mekong Region: Anthropological and Historical Perspectives" wird am Institut für Sozialanthropologie der ÖAW durchgeführt und vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gemeinsam mit der Japan Society for the Promotion of Science gefördert.