11.11.2015

Baujuwel des Mittelalters

Entstehung und frühe Entwicklung der Wiener Hofburg geben bis heute zahlreiche Rätsel auf. Eine soeben erschienene ÖAW-Publikation wirft neues Licht auf dieses Zentrum mittelalterlicher Macht.

Hofburgkapelle, unter Dach erhaltener Abschnitt der Giebelfassade. Foto: Bettina Neubauer-Pregl © Bundesdenkmalamt (2011)

Sie ist Sitz von Behörden, beherbergt mehrere Museen und die Österreichische Nationalbibliothek und wird jährlich von Hunderttausenden Menschen angesteuert: Die Wiener Hofburg ist gleichermaßen öffentlicher wie touristischer Knotenpunkt in der Wiener Innenstadt. Doch die Besonderheiten dieses monumentalen Ensembles gehen über Lage und Bedeutung in der Gegenwart hinaus. Denn die Hofburg und ihre 800-jährige Vergangenheit stellen einen einzigartigen kunsthistorischen Fundus dar, wie man am Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen (IKM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) weiß. Seit Jahren werden hier an der Abteilung Kunstgeschichte die Bau- und Funktionsgeschichte der Hofburg erforscht und die dabei gewonnenen Erkenntnisse in der gleichnamigen, fünfteiligen Publikationsreihe veröffentlicht. Tiefe Einblicke in die früheste Phase dieses Bauwerks gewährt nun der neueste Band: „Die Wiener Hofburg im Mittelalter. Von der Kastellburg bis zu den Anfängen der Kaiserresidenz.“

Wie entscheidend die Entstehungsphase für die spätere, von zahlreichen Zäsuren geprägte Entwicklung der Hofburg war, bestätigt Günther Buchinger, einer der Hauptautoren des Buches. „Die mittelalterliche Burg bildet bis heute das Zentrum der Wiener Hofburg, weil sie über Jahrhunderte von den Landesfürsten als Sinnbild ihrer Legitimität betrachtet und dementsprechend erhalten bzw. nur schonend umgebaut wurde“, so der Kunsthistoriker. Welche Bedeutung den ersten 300 Jahren der Wiener Hofburg in unterschiedlichsten Aspekten beizumessen ist, belegt der nun vorliegende Band, der unter der Herausgeberschaft von Mario Schwarz, a.o. Professor am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, entstanden ist. Das Buch erscheint im Verlag der ÖAW und wird am 24. November präsentiert. Grundlage der vom Wissenschaftsfonds FWF und der ÖAW finanzierten Forschungen war dabei das interdisziplinäre Zusammenspiel von verschiedenen Methoden der historischen Bauforschung, von Kunstgeschichte über Bauarchäologie, Archivarbeit und Dendrochronologie bis hin zu Geologie und Restaurierung. Nur dank der Synergien aus dieser Kooperation war es möglich, zu grundlegend neuen Erkenntnissen und – in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege und der Burghauptmannschaft – zur Entdeckung bislang verborgener Juwelen zu gelangen.

Die Kastellburg des 13. Jahrhunderts

So konnten bei der Erforschung der Entstehung der Burg im 13. Jahrhundert unter anderem substanzielle Bestandsreste im Bereich des Schweizerhofes durch Freilegungen nachgewiesen werden. „Der Bau stellt die älteste nachweisbare Kastellburg mit vier Rechtecktürmen nördlich der Alpen dar“, hält Herausgeber Mario Schwarz fest. Ein einzigartiges und vergessenes Relikt stellt dabei die sogenannte „Buckelquaderfassade“ der mittelalterlichen Burg dar, die ihren Namen speziellen wehrhaft wirkenden Quadern verdankt – und die unter der heutigen barocken Fassade über Jahrhunderte verborgen war, bis sie 2005 im Zuge von Baumaßnahmen im Kesselhaushof entdeckt und vorübergehend zugänglich gemacht werden konnte.

Die Burgkapellen

Nachgewiesen wurde darüber hinaus die Existenz von drei ehemaligen Kapellen aus dem Mittelalter, von denen bis heute lediglich die Hofburgkapelle aus den 1420er Jahren erhalten ist. Zwar bekannt, aber wiederentdeckt und kunsthistorisch neu bewertet wurde im Zuge der Forschungen ferner der frisch restaurierte Fassadengiebel hinter einem Vordach des Schweizerhofes. Dieser verborgene architektonische Schatz „besitzt aufgrund seines authentischen Erhaltungszustandes und seiner hohen künstlerischen Qualität eine herausragende Bedeutung“, bestätigt Günther Buchinger.

Die Hofkirchen

Neue Erkenntnisse konnten schließlich auch zur Baugeschichte der beiden Hofkirchen St. Michael und St. Augustin gewonnen werden. Bei der Analyse des Mauerwerks von St. Michael wurde unter einer dünnen Schicht ein Fresko entdeckt, das auf Initiative des Bundesdenkmalamtes freigelegt wurde und Prachtvolles zutage förderte: Die Darstellung eines künstlerisch hochwertigen Weltgerichts aus dem späten 15. Jahrhundert befand sich ursprünglich in einem Kapellenraum, dessen Gewölbe im Barock tiefer gesetzt wurde, sodass das Fresko in den Dachraum „wanderte“. Für jedermann frei zugänglich ist der 2011 freigelegte Teil des Kreuzgangs des Augustinerklosters aus dem 14. Jahrhundert. Im Zuge einer Restaurierung des Augustinerhofes durch die Burghauptmannschaft wurden die von den Bauforschern an dieser Stelle vermuteten Arkaden aufgedeckt und können seither über einen Durchgang vom Josefsplatz besichtigt werden.

Diese und zahlreiche weitere Einblicke in die mittelalterliche Kunstgeschichte der Hofburg lassen sich freilich nicht nur bei einem Besuch in den öffentlich zugänglichen Teilen des Bauwerks selbst, sondern insbesondere anhand des neu erschienenen Bandes der Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg gewinnen.

 

Publikation:

Mario Schwarz (Hg.), Die Wiener Hofburg im Mittelalter. Von der Kastellburg bis zu den Anfängen der Kaiserresidenz (Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg 1; Veröffentlichungen zur Kunstgeschichte 12; Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse 443), Wien 2015, Verlag der ÖAW