03.09.2019 | Podiumsdiskussion

"Aus der Geschichte lernen nur die, die auch lernen wollen"

Am 1. September 1939 hat das Deutsche Reich Polen überfallen. Das markierte den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Eine Diskussion von ÖAW und Parlament beleuchtete zum 80. Jahrestag die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej gibt im Interview einen Einblick in die Themen der Gedenkveranstaltung.

Das Denkmal des Warschauer Aufstands erinnert an die rund 200.000 Opfer der militärischen Erhebung im Sommer 1944. © Wikimedia / spens03

Der Zweite Weltkrieg hat die Welt in ihren Grundfesten erschüttert und bis heute geprägt – mehr als 50 Millionen Menschen fielen Krieg und Holocaust zum Opfer. Unmittelbar nach Kriegsende herrschte aber Verdrängung in vielen Staaten, sagt Włodzimierz Borodziej, Historiker an der Universität Warschau und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Am 2. September war er zu Gast bei einer gemeinsamen Podiumsdiskussion von ÖAW und Österreichischem Nationalrat mit dem Titel „80 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs: Überfall auf Polen“. 

Herr Borodziej, wie unterscheidet sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Österreich und Polen?

Włodzimierz Borodziej: Das offizielle Österreich hat bis zur Waldheim-Affäre überhaupt nicht über den Krieg und die Beteiligung der Österreicher/innen an den unzähligen NS-Verbrechen gesprochen. Das hat sich mittlerweile radikal geändert, allerdings eben erst seit den späten 1980er Jahren.

In Polen war es gerade umgekehrt, da haben die regierenden Pseudo-Kommunisten ihre Identität geradezu mit den deutschen Verbrechen gegen Polen legitimiert. Zusammengefasst: Auf polnischer Seite war es bis 1989 eine Falsifikation der Geschichte, auf der österreichischen Seite gab es Schweigen.

Warum war das so?

Die meisten Nationen haben den Krieg sehr lang vergessen und verdrängt. Der Grund: Fast überall gab es Kollaboration, entweder in staatlicher oder in individueller Form.

Borodziej: Es ist nicht nur ein österreichisches Phänomen, sondern war in vielen Staaten so: Die meisten Nationen haben den Krieg sehr lang vergessen und verdrängt. Der Grund: Fast überall gab es Kollaboration, entweder in staatlicher oder in individueller Form. Nach dem Krieg wollte man das unter den Teppich kehren, denn das war Voraussetzung, um ehemalige Nazis und Kollaborateure wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Natürlich ist das westlich des Eisernen Vorhangs unter völlig anderen Vorzeichen geschehen, denn da ging es ja um die Wählerstimmen der früheren Mitläufer/innen. Im Osten war es wichtiger, die Gräuel vergessen zu machen, damit die Menschen sich mit dem neuen, nun angeblich sozialistischem System anfreunden konnten.

Man hat Kriegsverbrechen und Holocaust also mit voller Absicht unter den Teppich gekehrt?


Borodziej: Ja. Zu vergessen war, so schrecklich es klingt, in den 50er und 60er Jahren die gangbarste Reaktion. Die Idee war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und an einer neuen Zukunft zu bauen – entweder einer demokratischen oder einer staatssozialistischen.

Erst in den 1970er und 1980er Jahren mit der „Wiederentdeckung“ des Holocaust hat sich das geändert. Seitdem erinnern wir uns intensiv. Anders als damals muss man heute aber keine Kriegsverbrecher/innen, Nazis und Kollaborateure mehr in die Gesellschaft integrieren. 

Wie sollen wir uns heute an diese Zeit erinnern? In wenigen Jahren wird kein Zeitzeuge mehr am Leben sein. 

Borodziej: Man kann sich an die Verbrechen anhand der Dokumente mindestens so gut erinnern wie anhand der Zeitzeug/innen. Von den 33.000 Jüdinnen und Juden, die in Kiew innerhalb von zwei Tagen ermordet worden sind, gibt es kein einziges schriftliches Zeugnis, und trotzdem wissen wir über diesen Massenmord genau Bescheid. Wir können und müssen auch ohne Zeitzeug/innen auskommen.

Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg heute in Polen, einem Land, das wie kein anderes darunter gelitten hat?

Für die Warschauer ist der 1. August emotional wichtig, denn da jährt sich der Warschauer Aufstand. Dass der Krieg immer wieder von der Rechten ausgeschlachtet wird und die Regierung Reparationen von Deutschland fordert, ist wahltaktischen Motiven geschuldet.

Borodziej: Für die Warschauer ist der 1. August emotional wichtig, denn da jährt sich der Warschauer Aufstand, bei dem innerhalb zwei Monaten bis zu 200.000 Zivilisten getötet worden sind. Jedes Jahr an diesem Tag bleibt der Straßenverkehr stehen, man erinnert sich.

Dass der Krieg immer wieder von der Rechten ausgeschlachtet wird und die Regierung etwa aktuell Reparationen von Deutschland fordert, ist wahltaktischen Motiven geschuldet. Das hat völkerrechtlich keine Chancen, ist politisch belanglos und schädigt Polens Beziehungen in der Europäischen Union. Von den heute 20- bis 30-Jährigen interessiert das aber niemanden.

Warum macht die Regierung den Krieg dennoch zum Thema?

Borodziej: Es gibt durchaus noch einen antideutschen Reflex in Teilen der Bevölkerung, den sie damit bedient. Jahrzehntelang wurde jeden 1. September das Schuljahr mit einer Ansprache des Kulturministers eröffnet, der im Hörfunk betonte, welche Gräuel die Deutschen dem Land zugefügt haben.

Dazu kommt: In vielen Dörfern und Städte im Osten war ein Drittel der Bevölkerung jüdisch. Auf den dortigen Grundstücken, in deren Häusern leben heute Polen, die sich dann und wann erinnern: Das hat doch mal einem Juden, einer Jüdin gehört. Nach wie vor sind die Eigentumsverhältnisse nicht überall geklärt. Rechtlich irrelevant: Kein Groß- oder Urenkel eines Holocaustopfers wird den heutigen Besitzer verklagen. Trotzdem: Wenn die Regierung sagt „Die Deutschen waren an allem Schuld“ kommt das gut an.

In Österreich sieht man den Erste Weltkrieg oft als Urkatastrophe, der Faschismus und den Aufstieg Hitlers erst möglich gemacht hat. Wie ist das in Polen?

Borodziej: Aus ostmitteleuropäischer Sicht war der Erste Weltkrieg alles andere als eine Urkatastrophe, denn er hat Polen die langersehnte Unabhängigkeit und Staatenbildung gebracht. (Anm: Vor 1918 existierte das Land nicht auf der Landkarte. Das heutige Polen war zwischen Deutschem Kaiserreich, Österreich-Ungarn und dem Russischen Kaiserreich aufgeteilt).

Die viel größere Katastrophe, die für Polen 1945 nicht zu Ende war, sondern mit der russischen Unterdrückung weiterging, war der Zweite Weltkrieg.  Polen war zwar Mitglied der Anti-Hitler-Koalition vom Frühjahr 1939. Die Alliierten hatten damals versprochen, innerhalb von zwei Wochen einer feindlichen Kriegserklärung zu Hilfe zu kommen. Großbritannien und Frankreich wussten allerdings von Vornherein, dass sie das nicht tun würden. Und bei der Konferenz von Jalta 1945, als es um die Neuordnung Europas nach dem Krieg ging, war das genauso.

Was können wir heute aus dem Krieg lernen?

Borodziej: Aus der Geschichte lernen ja nur die Menschen, die etwas lernen wollen. Die Mehrheit will das nicht. Wir können nur lernen, was man nicht machen soll. Heute sind wir in einer völlig anderen Konstellation als damals, es gibt die EU und NATO und ganz andere Probleme, die uns Sorgen machen, vom Brexit über Italien bis zu Trump. Eine Lehre ist aber: Man darf sich nicht mehr Diktatoren ausliefern lassen. Man muss aufpassen, denn an Rechtspopulisten gibt es ja gerade nicht zu wenige.

Aus der Geschichte lernen ja nur die Menschen, die etwas lernen wollen. Die Mehrheit will das nicht. Wir können nur lernen, was man nicht machen soll.

Oft werden Parallelen der heutigen Zeit zur Zwischenkriegszeit hergestellt, in der der Nährboden für Faschismus gelegt worden war.

Borodziej: Ich halte das für eine bequeme Ausrede, denn die Situation ist nicht vergleichbar. Das nach 1918 geborene Österreich wollte eigentlich kein Staat werden. In Deutschland wiederum gab es 6 Millionen Arbeitslose, den Menschen ging es nach Krieg und zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise elend. Wir haben es heute in keinem EU-Land mit solchen Problemen zu tun.

Wir leben 2019 in wohlhabenden Gesellschaften. Soziales und materielles Elend sind sicher nicht entscheidend für den Erfolg der FPÖ in Österreich, der AfD in Deutschland oder der PiS in Polen. Deren Erfolg hat andere Gründe, diffuse Zukunftsängste etwa. In Wahrheit geht es uns besser als je zuvor. Der Vergleich zu den 1920er und 1930ern ist völlig falsch – das müssten die Politiker/innen langsam auch begreifen.

 

GEDENKVERANSTALTUNG AN DER ÖAW

Auf Einladung der Akademie und des Österreichischen Parlaments fand am 2. September die Podiumsdiskussion "80 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs: Überfall auf Polen" statt. Im Festsaal der ÖAW diskutierte Włodzimierz Borodziej (Universität Warschau) mit Dieter Pohl (Universität Klagenfurt) über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen bis heute. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Kerstin Susanne Jobst (Universität Wien).