18.05.2017

Aus dem Innersten der Demokratie

Drei neu erschienene Bände des ÖAW-Verlags aus der Reihe der Ministerratsprotokolle erlauben außergewöhnliche Einblicke in die politische Schaltzentrale der frühen Zweiten Republik.

© Österreichische Nationalbibliothek/Europeana
© Österreichische Nationalbibliothek/Europeana

Was haben Sitzungsprotokolle mit fesselnder Lektüre zu tun? Tatsächlich einiges – sofern sie richtig aufbereitet werden. Diesen Befund legt die Editionsreihe der Ministerratsprotokolle der Zweiten Republik nahe. Herausgegeben unter anderem vom Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entführen diese Protokolle, umfassend kommentiert, wissenschaftlich erläutert und in den historischen Kontext eingebettet, ihre Leser/innen in die politischen Schaltzentralen früherer Regierungen Österreichs.

 

Die Ministerratsprotokolle machen ein Stück Zeitgeschichte wieder lebendig.

Anlässlich des Erscheinens dreier weiterer Bände im Verlag der ÖAW boten an dem Langzeitforschungsprojekt beteiligte Wissenschaftler/innen und Einrichtungen am 16. Mai 2017 im Theatersaal der ÖAW Einblicke in die reichhaltigen historischen Hinterlassenschaften früherer Ministerräte. Dabei wurde klar, dass Sitzungsprotokolle nicht nur von einzigartigem zeithistorischen Wert sind, sondern auch ein außergewöhnliches demokratiepolitisches Vermächtnis darstellen.

„Die Ministerratsprotokolle machen ein Stück Zeitgeschichte wieder lebendig“, zeigte sich Österreichs früherer Bundespräsident Heinz Fischer bei der Präsentation der drei neuen Bände begeistert. Diese decken den Zeitraum von Dezember 1945 bis März 1948 ab – eine historisch ungemein schillernde Ära unter Bundeskanzler Leopold Figl, die in Österreich einerseits im Zeichen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg stand, andererseits den einsetzenden Kalten Krieg, die Zeit der Besatzungsmächte und die beginnenden Verhandlungen zum Österreichischen Staatsvertrag markierte.

Gendarmerie und Ernährungslage

In den Protokollen des Ministerrats sind diese großen historischen Umwälzungen in Form von intensiven Diskussionen unter den Mitgliedern der Bundesregierung abgebildet. Inhaltlich erstrecken sie sich von der behutsamen Gründung einer bewaffneten Gendarmerie, mit denen man die Besatzungsmächte tunlichst nicht provozieren durfte, über den Umgang mit den im Zweiten Weltkrieg in Österreich gestrandeten „displaced persons“ bis hin zu Fragen der Ernährungssicherheit, wie der Historiker Oliver Rathkolb von der Universität Wien verdeutlichte. Verhandelt wurden diese Sachthemen, die für Österreichs Bevölkerung von höchster Dringlichkeit waren, nicht primär entlang parteipolitischer Linien, sondern aus der Perspektive der einzelnen Minister und ihrer Ressorts.

Manches wurde im Ministerrat durchaus kontrovers diskutiert.

Legen die Sitzungsprotokolle also nahe, dass der Regierung die Lösung der größten Probleme des Landes wichtiger war als parteipolitische Interessen? „Manches wurde im Ministerrat durchaus kontrovers diskutiert, manches führte zu Konflikten“, betonte Wolfgang Mueller, Historiker an der Universität Wien. „Im Allgemeinen überwog aber die Einigkeit“, so das Fazit des ÖAW-Mitglieds.

Bewusstsein fördern

Ein demokratiepolitisches Lehrstück stellen die Ministerratsprotokolle nicht nur deswegen dar. Vielmehr gehöre es, wie Mueller verdeutlichte, zu den selbstverständlichen Aufgaben moderner Demokratien, ihr historisches Erbe nicht nur zu bewahren, sondern auch zugänglich zu machen. Und auf diese Weise sowohl das Geschichtsbewusstsein als auch das Demokratiebewusstsein zu fördern, wie Rathkolb ergänzte.

Dass diese Lektüre dabei durchaus Faszination und Spannung birgt, wird anhand der Ministerratsprotokolle klar. Schließlich sollen diese, wie ein ehemals führender Politiker bei der Präsentation der drei neuen Bände zu berichten wusste, auch schon ihren Platz auf so manchem Nachtkästchen anderer Politiker/innen des Landes gefunden haben.

 

„Die Protokolle des Ministerrates der Zweiten Republik der Republik Österreich. Kabinett Leopold Figl I“ sind neu im Verlag der ÖAW erschienen. Sie ergänzen die Reihe der Bände der Ministerratsprotokolle, die mit dem Jahr 1848 einsetzt. Alle Bände können online beim Verlag der ÖAW bestellt werden.

 

Verlag der ÖAW