16.06.2020 | Klima im Wandel

Alpengletscher als Klimaarchive: Die Zeit läuft davon

Durch Bohrungen im Eis alpiner Gletscher lässt sich in die klimatische Vergangenheit Europas blicken. ÖAW-Gletscherforscher Pascal Bohleber erklärt im Interview, warum die Alpengletscher für die Klimaforschung wichtig sind und weshalb das Zeitfenster für die Nutzung begrenzt ist.

© Daniel Hinterramskogler/ÖAW

Gletscher sind wie Geschichtsbücher. Tausende Jahre Klimageschichte ist in ihnen nachzulesen. Für Forschungen zum aktuellen Klimawandel sind sie somit eine wichtige historische Quelle. Doch genau dieser Klimawandel ist es auch, der sie derzeit bedroht. „Eine dringende Frage ist, wie lange diese Archive noch erhalten bleiben werden. Gerade in den Ostalpen schmelzen diese Aufzeichnungen rapide dahin“, sagt Pascal Bohleber, der am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck arbeitet.

Bohleber hat vor kurzem den Stand der Forschung zum Thema Gletscher als Klimaarchive für die Oxford Research Encyclopedia zusammengefasst. Im Gespräch erzählt er, wie die Wissenschaft den Gletschern Informationen über historische Klimaschwankungen entlockt und wo das älteste Eis der Alpen zu finden ist.

Warum sind die Alpengletscher ein gutes Klimaarchiv?
Pascal Bohleber: Die Eiskerne, die wir aus den Alpengletschern bohren, sind die kleinen Schwestern der polaren Eiskerne. In der Arktis und Antarktis können wir weit in die Vergangenheit sehen, zum Beispiel was die Entwicklung von Treibhausgasen und Temperatur angeht, weil das Eis so alt ist. In den Alpen sind die Maßstäbe kleiner, aber dafür sind die Bohrungen viel näher an Siedlungsgebieten. Die Idee ist, dass wir das gleiche Archiv nutzen, aber nahe an den anthropogenen Quellen. Dadurch lässt sich etwa der Einfluss des Menschen auf die Luftqualität sehr gut nachvollziehen. Zudem gibt es in den Alpen ein dichtes Netzwerk an Messstationen und Zugang zu anderen Arten von Klimaarchiven. Wir haben also viele zusätzliche Informationen, die wir nutzen können, um neue Methoden zu entwickeln und das Archiv Gletschereis prinzipiell besser zu verstehen.

Die Eiskerne, die wir aus den Alpengletschern bohren, sind die kleinen Schwestern der polaren Eiskerne. In der Arktis und Antarktis können wir weit in die Vergangenheit sehen, zum Beispiel was die Entwicklung von Treibhausgasen und Temperatur angeht.

Wie unterscheidet sich die Arbeit in den Alpen von den Polen?
Bohleber: Die Gletscher in den Alpen sind kleiner und haben eine komplizierte Fließbewegung. Das macht es schwierig, das Alter der vergleichsweise kurzen Bohrkerne zu bestimmen. Hier können uns verschiedene Methoden sowie die zusätzlichen Daten, die uns für den Alpenraum zur Verfügung stehen, helfen.  

Wie lange werden schon Bohrungen in den Alpen gemacht?
Bohleber: Eiskerne werden in den Alpen schon seit über 40 Jahren untersucht. Es hat eine Weile gedauert, bis wir die Bedeutung der Alpengletscher als Klimaarchive einordnen konnten. Das hängt auch sehr vom Ort ab. Damit wir möglichst eine komplette Schichtung in Eiskernen erbohren können, muss der Schnee vor Ort kontinuierlich archiviert werden. Es muss also ganzjährig sehr kalt bleiben, um Schmelzen zu vermeiden. In den Alpen dachte man lange, dass sich nur Gebiete über 4.000 Meter eignen. Davon gibt es in den Alpen nicht so viele.

Wie weit in die Klimavergangenheit kann man in den Alpen sehen?
Bohleber: Das Monterosa-Gebiet, an der Grenze zwischen Italien und Schweiz, und das Montblanc-Gebiet waren lange Zeit die Hauptziele für Eiskernbohrungen in den Alpen. Das Eis ist an beiden Orten um 100 Meter dick. Wie weit ich in die Vergangenheit sehen kann hängt vom jeweiligen jährlichen Schneezutrag ab. Besonders in Eiskernen vom Montblanc-Gebiet können wir in guter Auflösung über etwa 100 Jahre zurückverfolgen, wie sich die Chemie des Niederschlages und mit ihr die Luftqualität verändert hat. Je weiter wir zurückgehen, desto enger werden aber die Schichten im Bohrkern. Das kommt von Scherbewegungen im Eis und setzt dem Rückblick Grenzen.

Besonders in Eiskernen vom Montblanc-Gebiet können wir in guter Auflösung über etwa 100 Jahre zurückverfolgen, wie sich die Chemie des Niederschlages und mit ihr die Luftqualität verändert hat.

Wie alt ist das älteste Eis, das wir aus den Alpen kennen?
Bohleber: Wenn es kalt genug ist, dass das Eis des Gletschers unten am Fels anfriert, rutscht es nicht den Berg hinab und kann sehr alt werden. Dabei wird es durch Scherbewegungen stark deformiert. Neue Untersuchungen vom Montblanc-Gebiet zeigen, dass dort am Fels Eis zu finden ist, das mehrere tausend Jahre alt ist. Aber nahe des Felsbetts fehlt meistens die erforderliche Auflösung der Analysemethoden, um detaillierte Aussagen zu machen. Am Monterosa-Sattel bleiben wegen des Windes im Schnitt nur etwa 10 Prozent vom Jahresniederschlag auch tatsächlich liegen. Dann dauern die Prozesse länger. Der Niederschlag von vor tausend Jahren findet sich dort in etwa im untersten Drittel des Eiskerns. Aber auch hier wird die Auflösung zur Herausforderung. Man kommt weiter zurück als bis ins Mittelalter, evtl. sogar mehrere tausend Jahre, kann für das Klima dort aber meistens keine aufs Jahr genauen Aussagen mehr machen – über langfristige Trends dagegen schon.

Wie wird das Alter der Schichten bestimmt?
Bohleber: Der Durchbruch war die C14-Methode für Eis. Wir untersuchen dabei den im Eis eingebauten Kohlenstoff. Zudem lassen sich die Jahres-Schichten zählen wie die Jahresringe eines Baumes. Dann gibt es einige Ereignisse, die fixe Marker im Eis hinterlassen haben, wie Saharastäube oder die Atombombentests, die 1963 ihren Höhepunkt erreichten. Wenn wir die C14-Analyse mit den Jahresringen und unseren Modellen des Eisflusses verbinden können, liegt der ermittelte Altersfehler in der Regel unter 10 Prozent. Wenn auch noch ein Fixmarker in der Nähe liegt, lässt sich die Genauigkeit der Datierung nochmals deutlich verbessern. Eine solche Altersbestimmung erlaubt einen Vergleich mit anderen Klimaarchiven. 

Kann man die alpinen Bohrkerne mit denen aus den Polregionen kombinieren?
Bohleber: Der Vergleich mit Grönland ist nicht einfach aufgrund der glaziologischen Unterschiede, der Entfernung, und weil die Zeitskalen nicht wirklich zusammenpassen. Alpine Eiskerne erreichen einige 1.000 Jahre, das entspricht einem kleinen Teil des Zeitfensters in Eiskernen aus Grönland. Die Spuren der anthropogenen Emissionen sind aber auch dort mittlerweile nachzuweisen. 

Aus alpinen Eiskernen wäre noch vieles erforschbar, etwa über die Bedingungen in der kleinen Eiszeit oder der mittelalterlichen Warmzeit.

Was können uns die alpinen Eisbohrkerne noch verraten?
Bohleber: Wir können schon einen Großteil des Klimabuches im Eis lesen, würde ich sagen. Gleichzeitig gibt es noch sehr viel zu lernen. Ich denke, dass wir durch technische Verbesserungen das Klimaarchiv noch in die Vergangenheit ausdehnen können. Vielleicht finden wir in Zukunft auch weitere Parameter, die uns erlauben, belastbarer auf die Temperaturen in der Vergangenheit zu schließen. Aus alpinen Eiskernen wäre noch vieles erforschbar, etwa über die Bedingungen in der kleinen Eiszeit oder der mittelalterlichen Warmzeit.

Gibt es aussichtsreiche Gebiete für neue Bohrungen?
Bohleber: Am ÖAW-Institut in Innsbruck wird mittlerweile auch unter 4.000 Meter Seehöhe in den Ostalpen nach altem Eis gesucht und ist auch bereits gefunden worden, etwa an der Weißseespitze im Kaunertal. Das ist dann oft kein durchgehendes Archiv, aber erlaubt einzigartige selektive Einblicke. Wenn wir das Eis am Grund von Gletschern datieren können, kennen wir zudem das Maximalalter und wissen, wann die Gebiete zum letzten Mal eisfrei waren. So können wir etwas über die Entwicklung der Gletscher während der Warmzeit der letzten 10.000 Jahre erfahren, und hoffentlich genauere Prognosen für ihre Zukunft machen. 

Ist die Arbeit durch den Klimawandel gefährdet?
Bohleber: Ja, eine dringende Frage ist, wie lange diese Archive noch erhalten bleiben werden. Gerade in den Ostalpen schmelzen diese Aufzeichnungen rapide dahin. Die Zeit drängt, denn die meiste Information geht bereits dann verloren, wenn sich der Gletscher am Grund erwärmt. Die aktuelle Forschungssaison vor Ort auf den Gletschern werden wir durch die Coronakrise wohl verlieren, das erhöht den Druck zusätzlich. 

 

AUF EINEN BLICK

Pascal Bohleber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Innsbrucker Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Klimarekonstruktion mittels Eiskernen und neuartige Datierungsmethoden von Eiskernen und Gebirgsgletschern.

Publikation:

„Alpine Ice Cores as Climate and Environmental Archives“, Bohleber, P. Oxford Research Encyclopedia of Climate Science, 2019
DOI:  10.1093/acrefore/9780190228620.013.743