01.10.2020 | 100 Jahre Bundesverfassung

Alles Gute zum Geburtstag, Verfassung!

Hans Kelsen gilt als Architekt der österreichischen Bundesverfassung, die am 1. Oktober vor hundert Jahren in Kraft getreten ist. Thomas Olechowski, wirkliches Mitglied der ÖAW, hat kürzlich eine umfassende Biografie veröffentlicht. Im Interview erklärt er, was ihn am Visionär Kelsen fasziniert.

Die „Hüter der Verfassung“: Dem Verfassungsgerichtshof, dessen Gebäude in der Wiener Innenstadt zu finden ist, obliegt es, die Einhaltung der Verfassung zu kontrollieren.
Die „Hüter der Verfassung“: Dem Verfassungsgerichtshof, dessen Gebäude in der Wiener Innenstadt zu finden ist, obliegt es, die Einhaltung der Verfassung zu kontrollieren. © VfGH

In seinem Standardwerk „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ geht der österreichische Rechtswissenschaftler Hans Kelsen (1881-1973), der Frage nach, wie die Freiheit des einzelnen am wirkungsvollsten zu sichern ist. Kelsens Schrift ist ein Plädoyer für gelebte Demokratie. Den Schutz von Minderheiten definierte er als zentralen Wert. Bekannt ist Kelsen vor allem, weil er maßgeblich am Entstehen der Österreichischen Bundesverfassung, die am 1. Oktober vor hundert Jahren beschlossen wurde, beteiligt war. Erstaunlicherweise ist erst jetzt eine umfassende Biografie des Rechtsvisionärs erschienen, der mit seinen Schriften weltweit bekannt wurde. Rechtshistoriker Thomas Olechowski, der Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist, hat 15 Jahre daran gearbeitet.

Hans Kelsen gilt als der Architekt der österreichischen Bundesverfassung. Was ist darunter zu verstehen?

Thomas Olechowski: Kelsen hat die Struktur vorgegeben, aber die Grundsatzentscheidungen haben Politiker getroffen. Das war wie bei einem Hausbau: Politiker wie Karl Renner waren die Bauherren, sie haben gesagt, sie hätten gern eine Villa mit einem Balkon und einem Kamin. Kelsen musste dafür sorgen, dass das Haus steht und funktioniert.

Der klare Stil der Verfassung kommt eindeutig von Kelsen selbst. Er hat immer betont, ein Gesetz soll Normen enthalten, aber nicht blumige Formulierungen, in die man alles hineinlesen kann.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen bezeichnete unsere Verfassung als „schön und elegant“. Hat Kelsen die Sprache vorgegeben?

Olechowski: Der klare Stil kommt eindeutig von Kelsen selbst. Er hat immer betont, ein Gesetz soll Normen enthalten, aber nicht blumige Formulierungen, in die man alles hineinlesen kann. Dann müssen erst recht wieder Juristen darüber streiten, was das konkret heißt. Genau das hat Van der Bellen während der Regierungskrise nach dem Ibiza-Skandal gemeint. Die Verfassung hat eine klare Handlungsanweisung vorgegeben, was er tun soll.

 

War es Kelsens persönliche Haltung, dass Freiheit ein hohes Gut ist?

Olechowski: Die Verfassung von 1920 hat inhaltlich sicherlich seinen Vorstellungen entsprochen. In seinem kleinen Buch „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ geht er davon aus, dass die Freiheit das Grundprinzip ist, von dem man alles ableiten muss. Gleichzeitig sieht er aber auch: In der Realität gibt es keine absolute Freiheit. Jede Herrschaft ist zugleich eine Einschränkung. Er hat die Demokratie also durchaus nüchtern gesehen.

Kelsen ließ sich taufen, aber der Antisemitismus hat ihn sein Leben lang begleitet.

Kelsen hat sich für die sogenannte Dispensehe stark gemacht: Dass man sich scheiden lassen und zu Lebzeiten eine zweite Ehe eingehen kann. Hat ihm das viel Kritik eingebracht?

Olechowski: Kelsen war später Verfassungsrichter, das ist ein Aspekt, der relativ wenig bekannt ist in seiner Biografie. Eine Scheidung war für Katholik/innen damals nicht möglich, aber es gab eine Gesetzeslücke. Diese Debatte ist dann vor dem Verfassungsgerichtshof gelandet. Kelsen hat zweite Ehen ermöglicht, sich auch in Publikationen und Vorträgen dahinter gestellt, wofür er extrem angefeindet wurde. Das ging soweit, dass sein Haus beschmiert wurde.

Er wurde auch als „Haremshälter“ beschimpft, obwohl seine eigene Ehe 60 Jahre ohne Scheidung hielt. Klang da auch Antisemitismus durch?

Olechowski: Kelsen ließ sich taufen, aber der Antisemitismus hat ihn sein Leben lang begleitet. Es ist ein Irrtum, wenn wir glauben, dass der Antisemitismus von den Nationalsozialisten erfunden wurde. Der war vorher schon ausgeprägt vorhanden. Es gab Angriffe von Fakultätskollegen, es wurde behauptet, Kelsen sei Marxist, was nicht stimmt.

Im Exil stand Kelsen jahrelang auf unsicheren Beinen. Erst im Alter von 80 Jahren war er von finanziellen Sorgen enthoben, weil er einen hoch dotierten Wissenschaftspreis bekommen hat. 

Was hat Sie am meisten überrascht bei Ihrer Recherche zur Biografie?

Olechowski: Seine unglaubliche Bandbreite an Interessen: Er hat in einer Schrift einen Bogen gespannt von den Naturvölkern bis zur Quantenphysik. Aber auch, wie schwierig es für ihn war, trotz seiner Qualifikationen, in den USA Fuß zu fassen. Im Exil stand er jahrelang auf unsicheren Beinen. Erst im Alter von 80 Jahren war er von finanziellen Sorgen enthoben, weil er einen hoch dotierten Wissenschaftspreis bekommen hat.

Obwohl er schon zu Lebzeiten berühmt war, war Kelsen als Migrant benachteiligt?

Olechowski: Natürlich hat es auch in den USA Antisemitismus gegeben. Als er einen Lehrstuhl gesucht hat, wurde ihm deutlich vermittelt: Wir haben schon zu viele Exilant/innen. An zahlreichen Universitäten gab es einen Numerus Clausus für Juden. Man hatte Vorbehalte gegen all diese Flüchtlinge, die da kommen und womöglich Kommunisten sind. Amerika kann nicht alle geflohenen Wissenschaftler/innen unterstützen, hieß es da. Viele Formulierungen von damals klingen nach wie vor sehr vertraut.

 

AUF EINEN BLICK

Thomas Olechowski ist stv. Leiter der Forschungsstelle „Hans Kelsen und sein Kreis“ der Universität Wien und Universitätsprofessor für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte ebendort. Er ist wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Obmann der  Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der ÖAW.

Das Buch „Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers“ ist 2020 beim Verlag Mohr Siebeck erschienen. Es umfasst rund 1.000 Seiten und 57 Abbildungen.

Veranstaltungstipp:

Anlässlich 100 Jahre Bundesverfassungsgesetz lädt die ÖAW zu einer rechtsvergleichenden Podiumsdiskussion mit führenden Vertreter/innen der Staatsrechtslehre und der Rechtsphilosophie ein. Diese werden insbesondere die Herausforderungen der Corona-Pandemie für den Rechtstaat in den Blick nehmen. Die Veranstaltung findet am Dienstag, 10. November 2020 um 18.30 Uhr statt (Theatersaal der ÖAW, Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien). Bitte beachten Sie, dass die Teilnehmerzahl coronbedigt beschränkt ist. Die Veranstaltung kann auch im Livestream verfolgt werden.

Veranstaltung „100 Jahre Bundesverfassung“