Oraltraditionen und Oralhistorie sind Ausdruck personaler und kollektiver Identitätskonstruktionen. Es handelt sich dabei um kein bloßes Zurückrufen der Vergangenheit; vielmehr sind derartige Erzählungen interpretative Kompositionen, die vergangene Ereignisse im Lichte der aktuellen Auffassungen und Beurteilungen zeigen (narrative Glättung, Plotbildung).

Die ethnographische Erforschung oraler Traditionen kann im Phonogrammarchiv auf eine besonders lange Tradition zurückblicken, die mit der Südarabien-Expedition der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (1898/99) bis in die Gründungszeit der Forschungseinrichtung zurückreicht. Sowohl in der Auswertung historischer Tonaufnahmen als auch in ihrer aktuellen Perspektive beruhen die Projekte dieses Forschungsbereichs auf einem Verständnis der situativen Ethnizität: Ethnische Abgrenzungen und Zugehörigkeiten beruhen demnach auf Eigen- und Fremdzuschreibungen, sie sind je nach Situation wandelbar und Ausdruck eines Beziehungsverhältnisses, welches zwischen (und nicht innerhalb) einzelner Gruppen besteht.

Der Forschungsbereich widmet sich anhand sozialanthropologischer Teilstudien der besonderen Rolle, die den Oraltraditionen in der Aufrechterhaltung und Neudefinition von ethnischen Beziehungen zuteilwird. Darüber hinaus werden in diesem Kontext insbesondere auch methodologische und methodische Fragen der ethnographischen Datenerhebung beleuchtet und in Synergie mit den anderen Forschungsbereichen des Phonogrammarchivs diskutiert.