„Lebenserwartung in den USA sinkt“, „Einbruch der Lebenserwartung: Werden wir doch nicht immer älter?“, „Lebenserwartung steigt nicht zwangsläufig weiter an“ – Schlagzeilen wie diese machten vergangenes Jahr in den Medien die Runde. Besonders die USA standen im Mittelpunkt: Dort sei die Drogenkrise der Grund für eine Trendumkehr bei der Lebenserwartung, von der man bisher glaubte, dass sie immer weiter steige.
Und tatsächlich werden wir auch immer älter, sagt Marc Luy vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die Trendumkehr, die man in den Zahlen von 2015 ausgemacht habe, sei in Wirklichkeit keine. Das zeigt Luy in einem kürzlich erschienenen Beitrag im Fachjournal „Gerontology“. 2016 sei die Lebenserwartung zudem in jedem Land wieder gestiegen. Mit einer Ausnahme: den USA. Doch dort sinke die Lebenserwartung nicht, sondern stagniert.
Seit Jahrzehnten steigt die Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern und im Durchschnitt der Weltbevölkerung kontinuierlich. Doch zuletzt sah man Anzeichen dafür, dass sich der Trend in den Industrienationen dreht. Sie stellen das infrage. Warum?
Marc Luy: Seit rund 150 Jahren sind wir daran gewöhnt, dass die Lebenserwartung immerzu steigt. Plötzlich sinkt sie und gleich ist die Rede von einer Mortalitätskrise. Als 2015 die Lebenserwartung in den USA gesunken ist, wurde sie sofort mit der Opioid-Krise, also der steigenden Zahl der Drogentoten, in Verbindung gebracht. Allerdings ist 2015 auch die Lebenserwartung in vielen europäischen Ländern gesunken. Auch hier wurden die Ursachen dafür sofort innerhalb der Landesgrenzen gesucht. In Italien waren es die Folgen der Grippewelle und die fehlende Impfbereitschaft der Bevölkerung, die als Erklärungsmodell dienten. In England wurde die Regierung dafür verantwortlich gemacht, weil sie die Ausgaben für das Gesundheitssystem reduziert hatte. Das war für mich verdächtig.
Wieso erschienen Ihnen nationale Erklärungen das verdächtig?
Luy: All diese Dinge passten nicht zusammen. Vor allem die Tatsache, dass die Lebenserwartung zeitgleich in mehr als 20 Industrieländern sinkt, hat für mich gegen die alleinige oder gar vorrangige Wirkung von länderspezifischen Ursachen gesprochen. Warum sollte in Österreich oder Deutschland die Lebenserwartung sinken, weil in England die öffentlichen Gelder für das Gesundheitssystem reduziert wurden, sich in Italien weniger Menschen impfen lassen und in den USA der Opioid-Konsum immer mehr zunimmt?
Das Problem ist, dass der Indikator „Lebenserwartung“ letztlich viel schwieriger zu interpretieren ist, als es auf den ersten Blick scheint. Lebenserwartung, das klingt so logisch. Aber was soll die Lebenserwartung eigentlich sein?
Das Problem ist, dass der Indikator „Lebenserwartung“ letztlich viel schwieriger zu interpretieren ist, als es auf den ersten Blick scheint. Lebenserwartung, das klingt so logisch. Aber was soll die Lebenserwartung eigentlich sein? Und wer weiß genau, wie sie berechnet wird? Die Lebenserwartung an sich spiegelt nicht das wider, was wir denken, dass sie widerspiegelt. Solange sich die Lebenserwartung gleichmäßig entwickelt, sind die methodischen Details kein Problem. Sobald es aber zu Verschiebungen kommt, wirkt sich die Veränderung selbst auf den Wert der Lebenserwartung aus, die dann falsch interpretiert wird.
Wie sieht Ihre Erklärung stattdessen aus?
Luy: Letztlich ist es ein kompliziertes Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren. Zuerst einmal muss man sehen, dass das Jahr, das aus der Reihe fällt, nicht 2015 ist, sondern 2014. Da gab es in fast allen Ländern einen extrem starken Anstieg in der Lebenserwartung. Darüber hat sich natürlich niemand beschwert. Wenn dann das Jahr 2015 wieder im Trend liegt, dann erscheint es wie ein Rückgang der Lebenserwartung. Und schaut man sich die Zahlen für 2014 und 2015 genauer an, dann sieht man, dass in diesen Jahren genau das eingetreten ist, was die amerikanischen Demographen John Bongaarts und Griffith Feeney bereits 2002 in einem theoretischen Modell als „Tempo-Effekte“ beschrieben haben.
Es gibt also gar keine Krise der Lebenserwartung?
Luy: Während alle nach den Gründen für eine Mortalitätskrise suchen, drehen wir das in unserem Paper in „Gerontology“ völlig um und sagen: Es gibt keine sicheren Hinweise für eine Krise, der Rückgang der Lebenserwartung liegt eher an den Tempo-Effekten. Hinzu kommt noch der sogenannte „Harvesting-Effekt“. Letztlich hat die erhöhte Anzahl an Sterbefällen 2015 vor allem damit zu tun, dass 2014 weniger Menschen gestorben sind als das unter normalen Bedingungen der Fall gewesen wäre. Der Rückgang der Lebenserwartung 2015 ist also die Folge einer eigentlich sehr positiven Entwicklung, nämlich dass es 2014 weniger Sterbefälle gegeben hat.
Der Rückgang der Lebenserwartung 2015 ist also die Folge einer eigentlich sehr positiven Entwicklung, nämlich dass es 2014 weniger Sterbefälle gegeben hat.
Der Harvesting-Effekt beschreibt, dass sich unter den daraus resultierenden zusätzlichen Überlebenden überproportional viele gesundheitlich schwächere Personen befinden, die dann unter wieder normalen Sterblichkeitsbedingungen mit zu den ersten Sterbefällen gehören. Dieser Effekt wurde nun dadurch verstärkt, dass es in den ersten Wochen des Jahres 2015 eine starke Grippeepidemie gegeben hat. Gleichzeitig war die Grippewelle 2014 viel schwächer, was wiederum den Anstieg in der Lebenserwartung in diesem Jahr erklärt. Die so entstandenen Verschiebungen der Sterbefälle haben dann zusätzlich noch die Tempo-Effekte bewirkt, welche die Veränderungen in der Lebenserwartung in beide Richtungen als rein methodischer Artefakt aufgeblasen haben.
Wie wird die Lebenserwartung eigentlich berechnet?
Luy: Wenn wir die Lebenserwartung berechnen, dann betrachten wir nur die Sterbefälle, die sich vom 1.1. bis zum 31.12. eines Jahres ereignen und berechnen daraus Sterbewahrscheinlichkeiten für jede einzelne Altersstufe. Aus diesen wird dann ein hypothetischer Lebensverlauf für die Neugeborenen konstruiert unter der Annahme, dass die aktuellen Sterbewahrscheinlichkeiten während ihres gesamten Lebens konstant bleiben. Das heißt, wenn die heute Neugeborenen in jedem Alter diese Sterbewahrscheinlichkeiten durchlebten, dann würden sie tatsächlich diese Lebenserwartung haben.
Was man in den USA schon länger beobachten kann, ist, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den sozialen Schichten immer größer werden – und zwar in einem Ausmaß, das es in europäischen Ländern so nicht gibt.
Das ist natürlich ein rein fiktiver Wert für eine hypothetische Bevölkerung. Dieser wird dann aber eingesetzt, um Schlussfolgerungen für die wirkliche Bevölkerung zu ziehen. Wenn es aber während des betrachteten Jahres zu Veränderungen in der Sterblichkeit kommt, entstehen eben Tempo-Effekte, die zu einem völlig verzerrten Bild dieser Lebenserwartung führen können. Das kann dann eben bis zu einem allein durch sie ausgelösten Trendwechsel reichen. Und so wie es aussieht, ist das 2015 tatsächlich passiert.
Und wie sehen die Daten für 2016 aus? Steigt die Lebenserwartung ab diesem Jahr wieder?
Luy: 2016 ist die Lebenserwartung in jedem Land wieder gestiegen – mit Ausnahme der USA. Es heißt zwar, dass die Lebenserwartung in den USA weiter gefallen sei. Wenn man aber weiß, wie das Ganze berechnet wird, würde ich eher sagen, sie stagniert. Konkret: Bei den Männern ist sie gleichgeblieben und bei den Frauen um 0,1 Jahre gesunken. Im Vergleich zu den Ländern Europas kommt in den USA also offenbar noch etwas hinzu. Hier spielt zwar die Opioid-Krise eine Rolle, aber sie ist für die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung nicht so bedeutend, wie es oft angenommen wird. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass es kein Opioid-Problem geben würde. Und selbstverständlich brauchen die vielen Menschen, die davon betroffen sind, dringend Hilfe und Unterstützung. Das hat nur eben nicht viel mit der Veränderung der Lebenserwartung zu tun. Dafür ist der Effekt zu gering.
Was ist dann der Grund für eine stagnierende Lebenserwartung in den USA?
Luy: Was man in den USA schon länger beobachten kann, ist, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den sozialen Schichten immer größer werden – und zwar in einem Ausmaß, das es in europäischen Ländern so nicht gibt. Das drückt den Durchschnitt und seine Entwicklung. In Europa zeigt sich nach den aktuellen Daten eigentlich nur bei den Frauen in Großbritannien und Frankreich eine ähnliche Entwicklung wie in den USA, aber weniger stark ausgeprägt. Auch hier gibt es vergleichsweise große Kluften zwischen den sozialen Schichten, wenngleich diese immer noch kleiner sind als in den USA.