06.02.2017

Wie lange leben wir wirklich?

Warum leben manche Menschen länger als andere – und: wie viele Jahre davon verbringen sie in guter Gesundheit? Die Forschung weltweit liefert hier unterschiedliche Zahlen. Woran das liegt, versucht ÖAW-Demograph Marc Luy herauszufinden.

© Shutterstock/Tuzemka
© Shutterstock/Tuzemka

Ewig lebt niemand. Doch die gute Nachricht ist: In den letzten Jahrzehnten ist die Lebenserwartung weltweit insgesamt gestiegen. Um wie viele Jahre genau die Menschen aber länger leben und wie hoch die Anzahl der Jahre ist, die sie in Gesundheit verbringen, ist nicht so leicht zu beantworten. Denn abhängig von der angewandten Methode variieren die Zahlen in der Wissenschaft.

„Man muss sich das wie ein großes Puzzle vorstellen – man kennt zwar schon viele einzelne Puzzleteile, aber man kann sie noch nicht richtig zum Gesamtbild zusammenfügen“, erklärt Marc Luy vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Für sein Projekt „Levels and Trends of Health Expectancy“ erhielt der Wissenschaftler kürzlich einen Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats ERC. Damit untersuchen er und sein Team, welchen Einfluss methodische Empfindlichkeiten auf die Messung der „gesunden Lebenserwartung“ haben und welche Auswirkungen dies auf Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung hat.

Klingt rein akademisch? Ganz im Gegenteil, denn die Forschungsfrage ist von praktischer Bedeutung für die Gesundheitspolitik. So hat sich etwa die Europäische Kommission zum Ziel gesetzt, die durchschnittliche Lebenszeit in guter Gesundheit in der Union bis 2020 um zwei Jahre zu erhöhen. Doch um das messen zu können, muss man klären, „welche methodischen Eigenheiten zu welchen Ergebnissen führen“, sagt Marc Luy im Interview.

Sieht man sich die Lebenserwartung der WHO an, so ist diese seit 2000 um fünf Jahre auf 71,5 Jahre gestiegen. Wie genau ist diese Aussage?

Marc Luy: Das ist eine wirklich gute Frage. Es fängt schon damit an, was man sich unter dieser Zahl überhaupt vorstellt. Da liegen vermutlich einige daneben. Denn das Wort „Lebenserwartung“ impliziert, dass es sich dabei um eine Prognose handelt, was es aber nicht ist.

Vielmehr kann man darunter den Versuch verstehen, das gesamte Sterblichkeitsgeschehen eines Jahres in einer Maßzahl zusammenzufassen. Das heißt, es wird ermittelt, wie hoch in einem bestimmten Kalenderjahr die Wahrscheinlichkeit war, im ersten Lebensjahr zu sterben, im zweiten, dritten usw. Anhand der miteinander verknüpften Wahrscheinlichkeiten lässt sich dann berechnen, mit welchem Altersdurchschnitt eine Generation sterben würde, wenn sie im Verlauf ihres Lebens genau diesen Sterbewahrscheinlichkeiten ausgesetzt wäre.

Wie genau die so zu verstehende Zahl der WHO nun ist, hängt natürlich vor allem von der Genauigkeit der Daten für die Berechnung der Sterbewahrscheinlichkeiten ab. In Österreich sind diese beispielsweise sehr zuverlässig. In vielen Ländern Afrikas und Teilen Asiens und Südamerikas hingegen fehlen dafür aber die Statistiksysteme, weshalb man hier meist auf Schätzungen angewiesen ist. Hinzu kommt, dass man in vielen Ländern gar nicht weiß, wie viele Menschen dort tatsächlich leben. Da mangelt es also schon an der einfachen Basis für die Berechnung der Sterbewahrscheinlichkeiten.

Dass Frauen älter als Männer werden, ist bekannt – in manchen Ländern sind es fünf Jahre oder mehr. In einer Studie haben Sie gezeigt, dass aber nur ein Jahr auf die biologischen Voraussetzungen zurückzuführen ist. Wovon hängt der Rest ab?

Luy: Wir konnten mit unserer „Klosterstudie“ zeigen, dass hier vor allem das Verhalten der Menschen eine Rolle spielt – zum Beispiel ob man raucht, das Risikoverhalten hoch ist, ob man viel Stress hat oder wie man sich ernährt. Heute sind also die persönlichen Entscheidungen die häufigste Todesursache, wie es ein Kollege aus den USA vor kurzem ausgedrückt hat. Letztlich ist es aber immer das Zusammenspiel vieler verschiedener Einzelfaktoren, das zur durchschnittlichen Lebenserwartung einer Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe führt. Deswegen lässt sich eine so einfach klingende Frage leider nicht ganz so einfach beantworten.

Die meisten Menschen wollen zwar lange leben, wichtiger ist aber für viele, gesund alt zu werden. Die EU hat sich nun zum Ziel gesetzt, dass Europäer/innen bis 2020 um zwei Jahre länger gesund leben sollen als heute. Wie stellt man das fest?

Luy: Die gesunde Lebenszeit zu schätzen ist viel komplexer als die Bestimmung der Lebenserwartung, weil die Erfassung des Gesundheitszustandes viel komplizierter ist als die des Lebensstatus. Auch gibt es viele unterschiedliche Definitionen von Gesundheit. Die WHO und die EU ziehen hier zum Beispiel ganz unterschiedliche Maße heran. Die EU berechnet Gesundheit anhand des sogenannten GALI-Maßes, dem „Global Activity Limitation Indicator“. Dieser basiert auf der Frage, ob und wie stark man in den letzten sechs Monaten oder mehr durch Gesundheitsprobleme bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens eingeschränkt war.

Die WHO legt ihren Schätzungen hingegen den „Global Burden of Disease“ zugrunde. Dabei werden Daten, wie Krankenhausstatistiken, Todesursachen usw. herangezogen. Die eruierten Krankheiten werden anschließend gewichtet und daraus ein Mittelwert berechnet. Das sind zwei völlig unterschiedliche Ansätze, die auch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Haben Sie ein Beispiel?

Luy: Estland finden wir nach dem WHO-Maß auf Platz 4 im Ranking der gesunden Lebenserwartung unter den europäischen Ländern. Nach dem GALI-Indikator hingegen ist Estland auf dem viertletzten Platz von 31. Bei Norwegen ist es genau umgekehrt. Nach dem GALI-Maß ist das Land auf dem vorletzten Platz und laut WHO-Statistik auf dem zweiten. Das verdeutlicht, was für eine große Rolle allein die Definition von Gesundheit spielt. Ähnliche Unterschiede zeigen sich, wenn wir uns ansehen, wie sich die Länder in Richtung des 2020-Ziels der EU entwickeln. Unsere Aufgabe ist es nun, systematisch aufzuzeigen, welche methodischen Eigenheiten zu welchen Ergebnissen führen. Und diese gehen weit über Definition und Erfassung des Gesundheitszustands hinaus.

Das heißt, man braucht gar nicht zu fragen, wie alt man gesund in Österreich werden kann?

Luy: Natürlich kann man das fragen. Es kommt nur drauf an, welches Maß man für eine Antwort heranzieht. Allgemein kann man sagen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsindikator und der Lebenserwartung gibt. Betrachtet man beispielsweise Krankheiten, wie Krebs oder Herzkrankheiten, die häufig eng mit dem Sterberisiko verbunden sind, so verschieben sich beide Werte immer weiter ins höhere Alter. Das heißt, hier bedeutet eine hohe und steigende Lebenserwartung wie in Österreich auch tatsächlich einen Anstieg an Jahren in guter Gesundheit. Bei chronischen Erkrankungen ist es allerdings eher umgekehrt – hier zeigt sich, dass das Mehr an Lebensjahren auch zu einem Mehr an chronischen Erkrankungen führt.

 

Marc Luy ist Forschungsgruppenleiter am Institut für Demographie der ÖAW. Zuvor war er Junior-Professor für Demographie und ihre Anwendungen an der Universität Rostock. Luy wurde 2011 in die heutige Junge Akademie der ÖAW gewählt, seit 2016 ist er korrespondierendes Mitglied der Akademie. 

Für das Projekt „Levels and Trends of Health Expectancy“: Understanding its Measurement and Estimation Sensitivity“ (LETHE) erhielt Luy 2016 einen ERC Consolidator Grant. Es ist bereits die zweite Auszeichnung des ÖAW-Wissenschaftlers durch den Europäischen Forschungsrat nach einem Starting Grant im Jahr 2010.

Healthy Ageing, steht im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeiten Luys. So hat er etwa in der “Deutsch-Österreichischen Klosterstudie” die Lebensdaten von rund 12.000 Ordensleuten analysiert und gezeigt, dass die unterschiedliche Lebenserwartung von Frauen und Männern nur zu etwa einem Jahr biologisch bedingt ist.

Institut für Demographie der ÖAW