Die Dauer des Lockdowns ist eine der entscheidenden – und nach wie vor unbeantworteten – Fragen in der Coronapandemie. Denn: „Das Ziel ist es, die Zahl der Todesfälle und die wirtschaftlichen Kosten zu minimieren“, erklärt Alexia Fürnkranz-Prskawetz vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Das Problem dabei: „Wird ein Lockdown zu früh beendet, droht eine zweite Erkrankungswelle. Dauert er zu lange, explodieren die wirtschaftlichen Kosten.“
Fürnkranz-Prskawetz und ihre Kooperationspartner/innen modellieren daher in einem aktuellen Forschungsprojekt die Ausbreitung der Pandemie und untersuchen, wie sich die wirtschaftlichen Kosten und die Zahl der Todesfälle in Abhängigkeit vom Startzeitpunkt des Lockdowns zu Beginn der Krankheitswelle entwickeln. Erste Ergebnisse zeigen, dass lokal unterschiedliche Lockdown-Maßnahmen sinnvoll sein können. „In Städten verbreitet sich der Erreger aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte zum Beispiel schneller“, so die ÖAW-Demographin.
Können Sie kurz erklären, worum es im Forschungsprojekt geht?
Alexia Fürnkranz-Prskawetz: Wir betrachten ein optimales Kontrollmodell der Virusausbreitung, in dem Beginn und Ende eines Lockdowns frei bestimmt werden können. Das Ziel ist es, die Zahl der Todesfälle und die wirtschaftlichen Kosten zu minimieren. Durch eine Einschränkung sozialer Interaktionen wird die Ausbreitung der Krankheit gestoppt, dadurch gehen aber Arbeitskräfte verloren. Hier eine Balance zu finden, ist schwierig. Wird ein Lockdown zu früh beendet, droht eine zweite Erkrankungswelle. Dauert er zu lange, explodieren die wirtschaftlichen Kosten. Zudem müssen wir auch die Kapazitäten der jeweiligen Gesundheitssysteme berücksichtigen.
Ist ein Lockdown kürzer, wenn er früh in der Ausbreitungsphase verordnet wird?
Fürnkranz-Prskawetz: Man würde erwarten, dass das Ende des Lockdowns linear davon abhängt, wann er begonnen wurde. Das stimmt aber nicht immer. Unsere Modelle zeigen, dass die verzögerte Verordnung eines Lockdowns manchmal dazu führen kann, dass er kürzer dauert, weil die Bevölkerung durch die höhere Zahl von Infizierten dann bereits weniger anfällig ist.
Man würde erwarten, dass das Ende des Lockdowns linear davon abhängt, wann er begonnen wurde. Das stimmt aber nicht immer.
Welche Startbedingungen werden für die Modelle gewählt?
Fürnkranz-Prskawetz: Wir modellieren die Ausbreitung über den Zeitraum von einem Jahr und sehen uns an, wie sich die wirtschaftlichen Kosten und die Zahl der Todesfälle in Abhängigkeit vom Startzeitpunkt des Lockdowns zu Beginn der Krankheitswelle entwickeln. Wir nehmen für das Modell an, dass anfänglich 0,1% der Bevölkerung infiziert sind.
Welche verschiedenen Lockdown-Strategien werden analysiert?
Fürnkranz-Prskawetz: Im Wesentlichen gibt es zwei Strategien. Erstens einen langen Lockdown, der das Virus aushungern soll, und zweitens die Abflachung der Ausbreitungskurve, die derzeit von vielen Ländern angestrebt wird. Unsere Modelle zeigen, dass die beiden Strategien in manchen Fällen gleich gut sein können.
Wenn die Kosten für ein Leben im Modell gering sind, wäre die optimale Reaktion der komplette Verzicht auf einen Lockdown. Werden die Kosten für ein Leben sehr hoch angesetzt, ist ein sofortiger Lockdown die beste Reaktion. In der Realität bewegen sich die meisten Länder in der Mitte.
Wie funktionieren die Modelle?
Fürnkranz-Prskawetz: Wir setzen auf sogenannte SIR-Modelle (susceptible, infected, recovered, Anm.), die die Bevölkerung in anfällige, infizierte und bereits wieder genesene Personen teilen. Dann wird die Ausbreitung der Krankheit mit verschiedenen Anfangs- und Endzeiten der Lockdownphasen modelliert.
Die Datenlage um Covid-19 ist schlecht. Wie wirkt sich das auf die Modelle aus?
Fürnkranz-Prskawetz: Ja, einige grundlegende Parameter wie die Infektionsrate kennen wir noch nicht genau. Da müssen wir auf Annahmen zurückgreifen. Aber das ist eines der Ziele unseres Projekts: Wir wollen zeigen, wie sehr solche Unsicherheiten die Ergebnisse beeinflussen.
Die Abwägung zwischen wirtschaftlichen Kosten und Menschenleben wird kontrovers diskutiert. Wie wird das bei der Modellierung gehandhabt?
Fürnkranz-Prskawetz: Das ist ein schwieriges Thema. Je nachdem, wie ich den Wert eines Lebens beurteile, ändern sich die Ergebnisse. Wenn die Kosten für ein Leben im Modell gering sind, wäre die optimale Reaktion der komplette Verzicht auf einen Lockdown. Werden die Kosten für ein Leben sehr hoch angesetzt, ist ein sofortiger Lockdown die beste Reaktion. In der Realität bewegen sich die meisten Länder hier wohl in der Mitte.
Unser Modell zeigt auch klar auf, dass die Verantwortlichen die wirtschaftlichen Folgen von Anfang an mitdenken müssen.
Eignen sich solche Modelle als Entscheidungsgrundlage für Regierungen?
Fürnkranz-Prskawetz: Da wichtige Daten geschätzt werden müssen, sind die Ergebnisse mit Unsicherheiten behaftet. Aber wir können zeigen, welche Parameter für die Entscheidung wichtig sind. Zudem werden die Daten mit der Zeit besser, was auch unsere Modelle präziser macht. Unser Modell zeigt auch klar auf, dass die Verantwortlichen die wirtschaftlichen Folgen von Anfang an mitdenken müssen. Die langfristigen Folgen können nämlich enorm sein. Wir sehen zum Beispiel, dass lokal unterschiedliche Lockdown-Implementierungen sinnvoll sein können. In Städten verbreitet sich der Erreger aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte zum Beispiel schneller. Aber es handelt sich um ein qualitatives Modell. Eine Bewertung von verschiedenen Lockdown-Strategien ist auf dieser Basis nicht möglich.
Regierungen müssen enorm aufpassen, weil verschiedene Gruppen, etwa Männer und Frauen, unterschiedlich hart getroffen werden können. Eine falsche Strategie kann diese Ungleichheiten noch verstärken.
Die Voraussetzungen in verschiedenen Ländern und Regionen können sehr unterschiedlich sei. Wie wirkt sich das aus?
Fürnkranz-Prskawetz: Die Modelle zeigen, dass es keine einzelne optimale Strategie gibt. Entscheidend ist etwa die Belastbarkeit der jeweils vorhandenen Infrastruktur. Dazu kommen sozioökonomische Faktoren und das jeweilige Sozialsystem. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person ein Intensivbett braucht, ist nicht in allen Gesellschaftsgruppen gleich hoch.
Das heißt bei der Frage nach der optimalen Strategie geht es auch darum, für wen das optimal ist?
Fürnkranz-Prskawetz: Ja, hier müssen die Regierungen enorm aufpassen, weil verschiedene Gruppen, etwa Männer und Frauen, unterschiedlich hart getroffen werden können. Eine falsche Strategie kann diese Ungleichheiten noch verstärken. Zudem wissen wir, dass die langfristigen Folgen etwa im Bildungsbereich gravierend sein können. Ein Ausschluss von Bildung für zwei bis drei Monate kann Folgen für die späteren Arbeitsmarktchancen der Betroffenen haben.