29.06.2017

Seltene Erkrankung offenbarte Erkenntnisse zur Darmgesundheit

Die Untersuchung einer seltenen, krankhaften Genveränderung lieferte einem internationalen Team um Molekularmediziner/innen der ÖAW entscheidende Hinweise auf die Funktionsweise eines für das komplexe Gleichgewicht des Darms wichtigen Proteins.

© Shutterstock.com
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Eine einzelne Genveränderung kann bereits im Kindesalter zu schweren Darmerkrankungen führen. Durch den vollständigen Verlust eines Proteins namens CD55 kommt es dabei zu schweren Darmentzündungen, chronischen Durchfällen und Thrombosen. Nun gelang es einem internationalen Forschungsteam unter der Leitung von Kaan Boztug vom CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und dem Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) sowie Michael Lenardo an den National Institutes of Health (NIH) Bethesda, diese bisher bei nur elf Patienten diagnostizierte Erkrankung auf molekularer Ebene zu entschlüsseln und einen bereits zugelassenen Wirkstoff zur Behandlung zu identifizieren. Zudem gewannen die Forscher/innen im Zuge der Studie wichtige neue Erkenntnisse über das komplexe Gleichgewicht des Darms, über die sie nun im Fachjournal New England Journal of Medicine berichteten.

Genetische Untersuchung lieferte entscheidende Hinweise

Genveränderungen, die zu einem Abbruch der Proteinproduktion führen, sind die schwerwiegendste Art von Mutationen. Dabei schleicht sich ein genetisches Stoppsignal – das sogenannte „Stopcodon“ – in die Bauanleitung für ein Protein. Die damit hergestellten, unvollständigen Eiweißmoleküle sind für den Körper meist nutzlos und werden abgebaut, oft mit verheerenden Folgen für den Organismus. Eine solche Mutation fand sich auch bei einer jungen Patientin, die nach zahlreichen Krankenhausaufenthalten und erfolglosen Therapien von Kaan Boztug, dem Direktor des neu gegründeten LBI-RUD und mit dem CeMM und der Medizinischen Universität Wien verbundenen Forschungsgruppenleiter, untersucht wurde. 

Die Patientin litt seit frühester Kindheit unter verschiedenen Symptomen, darunter schwerste Durchfälle, wiederkehrende Infektionen, chronisch mangelhafte Nährstoffaufnahme und damit einhergehende Entwicklungsstörungen. Die Ursache für den Zustand blieb ein Rätsel, bis Boztugs Team die Patientin genetisch untersuchte.  Durch eine Exomsequenzierung – das Auslesen aller proteinproduzierenden Gene – fiel den Wissenschaftler/innen das Stopcodon mitten in der Gensequenz für das Protein CD55 auf, einem wichtigen Regulierungsfaktor für das Immunsystem. Unterstützt von Erkenntnissen, die an den US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH), bei der Analyse vergleichbarer Fälle gewonnen werden konnten, gelang es dem Forscherteam, die molekularen Mechanismen der Erkrankungen aufzuklären: Fehlt CD55, kann ein Teil des Komplementsystems – eine wichtige Komponente der angeborenen Immunabwehr – nicht mehr abgeschaltet werden. Darüber hinaus ist CD55 wichtig für die Produktion von IL-10, einem entzündungshemmenden Botenstoff von Immunzellen.

Beide Effekte verstärken sich auf fatale Weise: Das Überschießen des Komplementsystems fällt mit dem Ausbleiben der beruhigenden IL-10 Moleküle zusammen. In weiterer Folge kommt es zu schwersten Entzündungen des Darms, da hier eine ständige Stimulation des Immunsystems durch die Darmflora stattfindet und eine fein abgestimmte Regulierung besonders wichtig ist. Die Lymphgefäße des Darms werden dabei durchlöchert, es kommt zum Austritt von Proteinen aus dem Blutplasma. Chronischer Eiweißverlust über den Darm zählt daher zu den Symptomen der CD55-Mutation, ebenso wie häufige Thrombosen.

Zugelassener Wirkstoff identifiziert

Auf Basis dieser Erkenntnisse konnte Boztugs Team einen Wirkstoff identifizieren, der den Symptomen entgegenwirkt: ein bereits zugelassenes Medikament, das eine verstärkte Aktivität des Komplementsystems bremst und auch bei fehlendem CD55 eingesetzt werden kann. „Diese Erkrankung ist ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der Erforschung seltener Erkrankungen“ betont Kaan Boztug. „Indem wir zunächst den molekularen Mechanismus der Erkrankung aufdecken, können wir gezielt zugelassene Wirkstoffe testen, die in diesen Mechanismus eingreifen. Darüber hinaus kommen durch die Untersuchung eines einzelnen Gendefekts meist auch neue Erkenntnisse über die Rolle des gesunden Gens ans Tageslicht“, so der Forscher.

Welche Rolle CD55 für die Darmgesundheit spielt, war bisher kaum erforscht. Ebenso waren die Gründe für chronischen Eiweißverlust, der auch bei einer Reihe anderer Erkrankungen auftritt, bisher unklar. Hier konnte die nun vorliegende Studie wichtige Erkenntnisse liefern, die das Verständnis des komplexen Gleichgewichts im Darm erweitern, aber auch für andere Erkrankungen relevant sein könnten.

 

Publikation:

„CD55 Deficiency, Early-Onset Protein-Losing Enteropathy and Thrombosis“,Ahmet Ozen, William A. Comrie, Rico Chandra Ardy (…),Kaan Boztug, Michael J. Lenardo. New England Journal of Medicine, 2017

DOI: 10.1056/NEJMoa1615887 


Förderung:

Die Studie wurde von den National Institutes of Health (NIH), dem Europäischem Forschungsrat (ERC), dem wissenschaftlichen und technologischen Forschungsrat der Türkei, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW DOC Fellowship), der American Diabetes Association und dem National Institute of General Medical Sciences (NIGMS) gefördert.

CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der ÖAW