08.02.2019

"Lawinengefahr nur sehr schwer messbar"

Die Schnee- und Lawinenforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt, sagt ÖAW-Gebirgsforscherin und Klimatologin Andrea Fischer. Dennoch bleibe es eine Herausforderung, das Risiko für Lawinen exakt vorherzusagen.

© Shutterstock

Den Tourismus in Österreich freut es: Die Branche spricht mittlerweile vom „besten Winter der letzten Jahre“. Doch es gibt auch eine Kehrseite des heftigen Schneefalls: Orte werden eingeschneit und bleiben tagelang unerreichbar, für viele Regionen gelten hohe Lawinenwarnstufen.

Andrea Fischer vom Innsbrucker Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ordnet den heurigen „Rekordwinter“ klimatologisch ein und erklärt, warum sich die Lawinengefahr noch immer so schwer vorhersagen lässt.


Kann man heuer tatsächlich von einem „Rekordwinter“ sprechen?

Andrea Fischer: Die Schneemenge, die innerhalb weniger Tage im Jänner gefallen ist, war außergewöhnlich hoch. Im Winter 1954 gab es eine sehr ähnliche Wetterkonstellation in denselben Regionen. Damals gab es ab Jahresbeginn starke Schneefälle am Alpennordrand, und leider am 11. und 12. Jänner Lawinenereignisse in besiedeltem Gebiet mit 125 Todesfällen und 491 zerstörten Gebäuden. Der Unterschied zwischen dem Lawinenwinter 1954 und dem heurigen Winter liegt nicht so sehr in der Schneehöhe, sondern in der Weiterentwicklung der Schutzmaßnahmen.

Die Schnee- und Lawinenforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten basierend auf Beobachtungsdaten und Modellierungen stark weiterentwickelt, sodass viele gefährliche Lawinenstriche verbaut werden konnten. Zudem gibt es ein sehr gutes Warnsystem, das mit wesentlich besseren Wetterprognosen arbeiten kann, als es in den 1950er-Jahren der Fall war. So kommt es heute, trotz der stark angestiegenen besiedelten Fläche und größerer Mobilität, zu weniger Schadensfällen.

Lässt sich das Lawinenrisiko heute besser abschätzen als früher?

Fischer: Dank Satellitenbildern, automatisierten Schneehöhenmessungen und neuer Modelle definitiv ja. Allerdings wird es nie völlige Sicherheit geben, denn bei der Bildung von Lawinen sind chaotische, nichtlineare Vorgänge beteiligt. Kommt es zum Bruch in der Schneedecke? Wird er sich fortpflanzen? Diese Fragen sind schwer vorhersehbar.

Welche Parameter werden für Prognosen herangezogen?

Fischer: Einerseits die Schneehöhe, die seit den 1970er Jahren automatisiert erfasst werden kann – allerdings hauptsächlich in Tallagen. Natürlich sind auch meteorologische Daten, die in Österreich von der Zentralanstalt für Metereologie und Geodynamik (ZAMG) in sehr hoher Qualität kommen, extrem wichtig: Messungen und Prognosen etwa von Niederschlag, Temperaturen, Luftdruck und vor allem Windgeschwindigkeit. Die automatisierte Erfassung der Schneedecke ist bedingt durch die veränderliche Dichte der Schneedecke und den Windeinfluss sehr unsicher, weshalb „Handmessungen“ auch heute noch wichtig sind.

Bei der Bildung von Lawinen sind chaotische, nichtlineare Vorgänge beteiligt. Kommt es zum Bruch in der Schneedecke? Wird er sich fortpflanzen? Diese Fragen sind schwer vorhersehbar.


Je nach Wassergehalt und Konsistenz wiegt ein Kubikmeter Schnee zwischen 150 und 700 Kilogramm. Bei derselben Schneehöhe kann also das Gewicht des Schnees sehr unterschiedlich sein. Wenn es zum Beispiel bei Temperaturen um null Grad schneit, kann die Schneehöhe an der Messeinrichtung abnehmen, obwohl Schnee dazu kommt. Die Dichte und Konsistenz der Schneedecke lässt sich nach wie vor nur durch Begehungen und Messungen vor Ort erfassen. Das ist der Grund, warum wir am Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW nach wie vor jedes Jahr die Schneehöhen an den Gletschern händisch erfassen. Bei diesen Messungen Ende April wird man sehen, ob der heurige Winter tatsächlich auch überdurchschnittlich viel Schnee auf die Gletscher gebracht hat.

Die Verteilung des Schnees über größere Flächen ist auch heute noch schwer messbar. Kay Helfricht widmet sich an unserem Institut in seinem FWF-Projekt ‚Plu-Snow‘ der Verbesserung der Messungen der Schneedecke, wie sie etwa für Lawinenprognosen oder Modelle des Schmelzwasserabflusses wichtig ist.

Die Medien überschlagen sich mitunter mit Katastrophenszenarien. Sind wir weniger auf „richtige Winter“ vorbereitet als früher?

Fischer: Ich denke, es gibt tatsächlich eine andere Haltung in der Bevölkerung. Wenn vor 40 Jahren eine Straße für zwei oder drei Tage gesperrt war, war das keine große Überraschung. Es gab mehr Subsistenzwirtschaft und eine längere Lagerhaltung von Lebensmitteln, um auf Ausfälle vorbereitet zu sein. Heute gibt es das nicht mehr, Lieferungen besonders für Wirtschaftsbetriebe und Handwerk sind oft „just in time“. Auch gibt es heute ein stärkeres Mobilitätsbedürfnis sowie deutlich mehr Betroffene: Pendler/innen und Wintertourist/innen in großer Zahl sind ein relativ junges Phänomen.

Stimmt es, dass extremer Schneefall und besonders niedrige Temperaturen im Winter auch mit dem weltweiten Klimawandel zu tun haben?

Fischer: Beide Phänomene entstehen aus bestimmten Wetterlagen, die sich ‚stationär‘ verhalten, also längere Zeit an einem Ort bleiben. Ein Zusammenhang zwischen diesem eher stationären Verhalten von Frontsystemen und dem Klimawandel wird von verschiedenen Forscher/innen vermutet.  Dieser Mechanismus führt  auch zu wochenlangen Hitzewellen im Sommer. Wir erwarten uns von den alpinen Eisbohrkernen – wie etwa im FWF Projekt „Cold Ice“ – bessere Hinweise auf vergangene extreme Schneefallereignisse.
 

 Dass sich das Klima erwärmt, sehen wir eindeutig in unserer Gletscherforschung.


Dass sich das Klima erwärmt, sehen wir eindeutig in unserer Gletscherforschung: Gletscher reagieren sehr träge auf Klimaveränderungen und sind daher ein verlässlicher und gut sichtbarer Indikator für Langzeitforschung am Klima.

Was sind Ihre Ergebnisse?

Fischer: Seit 1850 ist die Fläche der weltweiten Gletscher um die Hälfte gesunken. Besonders eindeutig lässt sich dies im Alpenraum nachvollziehen, da es hier Zeitreihen seit mehr als 400 Jahren gibt. Relevant für den Gletscherschwund sind die Temperaturen im Mai und September sowie die ganzjährigen Niederschläge. Wir starten im Frühling wieder unsere Begehungen und Messungen, können aber davon ausgehen, dass der Trend des Rückgangs sich weiter fortsetzen wird.

 

Andrea Fischer ist Glaziologin und Direktorin des Instituts für interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW in Innsbruck. 2013 war sie "Österreicherin des Jahres" in der Kategorie Forschung, seit 2014 ist sie korrespondierendes Mitglied der ÖAW.

Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW