07.09.2018

Die Sprachen der Seidenstrasse entschlüsseln

Sanskrit, Griechisch, Latein. Über diese alten Sprachen ist viel bekannt. Doch was wissen wir über die Entstehung und Entwicklung des Tocharischen oder Sakischen? Noch viel zu wenig. Das will der Sprachwissenschaftler Hannes A. Fellner nun ändern.

© ÖAW/belle & sass

Einkaufslisten von Karawanen entschlüsseln. Das mag für Unkundige zunächst seltsam klingen, für Linguist/innen ist das aber von großem Forschungsinteresse. „Wir können aus diesen alten Schriftstücken wichtige Erkenntnisse gewinnen“, sagt der Sprachwissenschaftler Hannes A. Fellner. „Nicht nur über die verwendete Schrift, auch über die Sprache und den Verfasser lassen sich Aussagen treffen.“

Doch Fellner, der an der Universität Wien forscht und heuer in die Junge Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) aufgenommen wurde, interessieren natürlich nicht nur Einkaufslisten. Er und sein Team untersuchen in einem aktuellen Forschungsprojekt auch medizinische und buddhistische Manuskripte, die in einer der Sprachen verfasst wurden, die ab dem 2. Jahrhundert entlang der alten Seidenstraße verwendet wurden.

Das Ziel von Fellners Forschungen ist, noch weitgehend unbekannte Sprachen wie das Tocharische, ähnlich gut in ihrer Entwicklung nachzeichnen zu können, wie das für Sanskrit, Altgriechisch oder Latein längst der Fall ist. Dafür will er alle noch vorhandenen Fragmente untersuchen und mit einem Computerprogramm analysieren. Wie er dabei vorgeht und was er bereits herausfinden konnte, erzählt Fellner im Interview.

Sie beschäftigen sich gerade mit Sprachen, die entlang der alten Seidenstraße verwendet wurden. Ihr Fokus liegt auf dem Tocharischen. Was ist an dieser Sprache so besonders?

Hannes A. Fellner: Da muss ich etwas ausholen: Ich beschäftige mich grundsätzlich mit den indogermanischen Sprachen – Sprachen, mit denen auch beispielweise Deutsch, die slawischen und romanischen Sprachen verwandt sind –, die in der Antike im heutigen China gesprochen wurden. Die wichtigsten davon sind: das Tocharische, aber auch das Sakische, eine iranische Sprache, sowie Sanskrit, also Altindisch. Das Interessante dabei ist, Sanskrit und die iranischen Sprachen kennen wir auch aus anderen ganz verschiedenen Quellen, das Tocharische aber nur von der Seidenstraße. Tocharisch ist ein Ableger des Indogermanischen, das heißt einer von zwölf prinzipiellen Zweigen, und ist relativ unerforscht. Sanskrit, Griechisch und Latein sind Sprachen, die seit mehreren hundert Jahren erforscht werden. Tocharisch wurde hingegen erst vor etwas mehr als 100 Jahren an der Seidenstraße entdeckt.

Sanskrit, Griechisch und Latein sind Sprachen, die seit mehreren hundert Jahren erforscht werden. Tocharisch wurde hingegen erst vor rund 100 Jahren an der Seidenstraße entdeckt.

Was genau untersuchen Sie bei Ihrem Forschungsprojekt?

Fellner: Ich möchte diese Sprachen, die alle in einer speziellen Variante der indischen Brahmi-Schrift geschrieben wurden, paläographisch – also schriftkundlich – und linguistisch untersuchen, um bestimmte Texte in einen größeren, historischen Kontext einordnen zu können. Wir wollen auch wissen, wer bestimmte Texte wann und wo geschrieben hat.

Das dürfte nicht so einfach sein, alte Manuskripte sind ja oft nur fragmentarisch vorhanden.

Fellner: Das ist richtig. Aber vor 100 Jahren gab es die großen Seidenstraßenexpeditionen. Den Begriff Seidenstraße gibt es übrigens erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Man war sich zuvor gar nicht richtig bewusst, welche Schätze dort liegen, bis dann diese Expeditionen losgingen. England, Frankreich und Deutschland waren dabei sehr aktiv, diese damaligen Großmächte haben viele Manuskripte gesammelt. Alleine daraus sind um die zwei Dutzend Sprachen überliefert. Viele der Manuskripte liegen heute verteilt in Berlin, Paris und London und einige auch in Sankt Petersburg und an verschiedenen Orten in China. Und aus diesen Quellen schöpfen wir; vieles ist heute gescannt und online archiviert.


Wie findet man denn den Verfasser eines Textes?

Fellner: Wir nehmen da sozusagen die europäischen christlichen Klöster zum Vorbild. In diesen Klöstern wurde sehr viel gesammelt, penibel aufgezeichnet oder kopiert und man wusste durch diese Aufzeichnungen in der Regel, wer was wann wo verfasst hat. Aber all das wissen wir eben von den indogermanischen Sprachen an der Seidenstraße nicht, außer dass ein großer Teil dieser Texte in Klöstern, nämlich buddhistischen, aufbewahrt wurde. Wir wollen nun das erste Mal mittels linguistischen und paläographischen Methoden diese Arbeit machen, die für die europäischen Manuskripttraditionen schon gemacht wurde.

Und die Forschung ist insofern schwierig, weil es tausende Fragmente gibt, verteilt über 3 Sprachen: das Tocharische, Sanskrit und Sakisch.

Fellner: Ja, bis jetzt gibt es nur ein Buch dazu, das ist aus den 1960er Jahren; doch Lore Sander, die Indologin bzw. Paläographin, die es geschrieben hat, hatte nur in einen Teil der Daten Einblick. Sie hatte nicht alle Fragmente. Und wir wollen nun alle Fragmente ansehen und bearbeiten, um dann eine digitale Analyse durchzuführen. Wir werden dazu unter anderem ein Computerprogramm entwickeln, das – gefüttert mit all den Daten – uns dabei unterstützen wird, herauszufinden, in welcher Art sich die Manuskripte paläographisch voneinander unterscheiden bzw. was sie miteinander verbindet.

Das Projekt hat zwar erst dieses Jahr begonnen. Aber haben Sie bereits etwas herausgefunden?

Fellner: Wir stehen tatsächlich noch am Anfang. Was wir aber wissen ist, dass das Tocharische verschiedene Stufen durchlebt hat. Sowie das Deutsche, das ja auch das Mittelhochdeutsche und das Althochdeutsche kennt. Älteres Tocharisch sieht völlig anders aus als neueres. Man sieht also zum Beispiel, dass sich Formen von einzelnen Zeichen der Schrift, aber auch die Sprache selbst über die Jahre verändert haben. Schrift und Sprache entwickelten sich über beinahe 600 Jahre.

Was wir wissen ist, dass das Tocharische verschiedene Stufen durchlebt hat. Sowie das Deutsche, das ja auch das Mittelhochdeutsche und das Althochdeutsche kennt. Älteres Tocharisch sieht völlig anders aus als neueres.

Wir nehmen an, dass ältere Stufen der Sprache mit neueren Varianten der Schrift geschrieben sind und umgekehrt auch neuere mit älteren Schriftvarianten. Und das verstehen wir als Hinweis darauf, dass ein Kloster womöglich konservativer war in der Schriftentwicklung, aber progressiver in den sprachlichen Formen. Und umgekehrt: ein Kloster paläographisch progressiver, aber sprachlich konservativer gewesen könnte. Dies werten wir als möglichen Hinweis auf unterschiedliche Schreibschulen.

Verstehen Sie auch den Inhalt dieser Texte?

Fellner: Ja, aber die Aufzeichnungen sind oft nicht vollständig, daher ist es schwer, sie sinnerfassend zu lesen. Der Kontext fehlt oft. Und das zweite – wenn auch sehr interessante – Problem ist, dass die Tocharer Buddhisten waren. Wir wissen heute, dass die Tocharer eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des Buddhismus nach China hatten. Sie praktizierten eine frühe Form des Buddhismus. Wir fragen uns vor diesem Hintergrund auch und unter anderem: Haben dieselben Leute, die Tocharisch schrieben, auch Sanskrit beherrscht und geschrieben? Oder ganz generell: Wie kam die Brahmi-Schrifttradition von Indien an die alte Seidenstraßenregion im heutigen China?

Die Tocharer hatten eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des Buddhismus nach China.

Warum sind diese Erkenntnisse so wichtig?

Fellner: Nicht nur aus linguistischer und buddhologischer Sicht ist unsere Forschung wichtig, auch aus historischer. Die alte Seidenstraße ist noch relativ unerforscht, weil die dort gesprochenen Sprachen schwierig sind und sich nur wenige Leute mit ihnen befassen. Wir wollen diese alten Texte für jeden zugänglich machen. Und wir haben es ja nicht nur mit buddhistischen Texten zu tun, wir haben beispielsweise auch Einkaufslisten von Karawanen oder für Klöster, auf denen alle Waren stehen, die die Mönche einst bezogen haben. Oder medizinische Texte sowie Kalendersysteme, die erhalten geblieben sind. In den 6 Jahren – so lange dauert das Forschungsprojekt – werden wir diese alten Schriften hoffentlich durchforstet haben und an Wissen reicher sein als zuvor.

 

Hannes A. Fellner studierte Lingustik an der Universität Wien. Für sein Doktorat ging er für mehrere Jahre an die Harvard University. Nach seiner Promotion forschte er u.a. an der Harvard Business School, dem Institut de France, der Universität Wien und der Universität Leiden. 2018 startete er sein vom Wissenschaftsfonds FWF finanziertes Projekt „The Characters that shaped the Silk Road“, einer Kooperation von Universität Wien und dem Austrian Centre for Digital Humanities der ÖAW. Im selben Jahr wurde er auch zum Mitglied der Jungen Akademie der ÖAW gewählt.

Die Junge Akademie der ÖAW besteht aus bereits etablierten Nachwuchswissenschaftler/innen aller Fachrichtungen und hat bis zu 70 Mitglieder. Diese bilden die Stimme einer jungen Generation in der Wissenschaft und setzen sich für interdisziplinären Austausch und die Identifizierung innovativer Forschungsfelder ein.

Junge Akademie der ÖAW

Mitglieder der Jungen Akademie der ÖAW