18.11.2019 | Akademievorlesung

Die goldene Epoche deutsch-jüdischer Philosophie

Die französische Philosophin Myriam Bienenstock beleuchtete bei einer Akademievorlesung an der ÖAW das Verhältnis der beiden renommierten Denker Hermann Cohen und Franz Rosenzweig. Deren Positionen sind heute ethisch und politisch erstaunlich aktuell.

© Giammarco Boscaro/Unsplash

Beide prägten die jüdische Philosophie des 20. Jahrhunderts, dennoch sind sie heute kaum mehr bekannt: Hermann Cohen (1842–1918) und Franz Rosenzweig (1886–1929). Zu unrecht, wie die französische Philosophin Myriam Bienenstock findet. Denn viele Aspekte ihrer philosophischen Schriften seien – bei allen Unterschieden ihrer Positionen – noch heute äußerst aktuell.

Am 21. November stellte Bienenstock bei einer Leibniz Lecture im Rahmen der Akademievorlesungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) die beiden Denker und ihre Bezüge zur Gegenwart vor. Im Interview spricht sie über das Verhältnis der Philosophen zueinander und die „goldene Epoche deutsch-jüdischer Philosophie“.

Außerhalb der Fachwelt sind Hermann Cohen und Franz Rosenzweig wenig bekannt. Wenn Sie die beiden – als Denker und Menschen – kurz charakterisieren müssten, wie würden Sie sie beschreiben?

Myriam Bienenstock: Es stimmt, dass diese Autoren heute in der deutschsprachigen Welt nur noch wenig bekannt sind, aber das ist nicht immer der Fall gewesen. Vor dem Ersten Weltkrieg reichte die Wirkung von Hermann Cohen weit über seine Universität hinaus, und zwar nicht nur weil er derjenige war, der die Universität Marburg als Stätte des Neukantianismus weltberühmt machte, sondern auch, weil manche seiner Zuhörer, die selber in späteren Jahren berühmt wurden – zum Beispiel Ernst Cassirer, Boris Pasternak, Ortega y Gasset –, von der Leidenschaft, mit der Cohen seine Themen behandelte, geradezu mitgerissen wurden.

Außerhalb seines Faches war Cohen bekannt, weil er Partei für einen „ethischen“ Sozialismus ergriff. Seine Position wurde auf sozialdemokratischen Kongressen damals heftig diskutiert. Franz Rosenzweig verehrte Cohen, obwohl er dessen politische Überzeugung nicht teilte. Er erzählt, wie sie einmal im Berliner Tiergarten spazieren gingen und Hermann Cohen einem Bettler einen Groschen gab. Rosenzweig fragte Cohen, warum er dem Kerl etwas gebe, wo doch eindeutig sei, dass er es sofort versaufe. Da habe Cohen erwidert: „Dummer Junge, naschst Du nicht?“ Dies wäre also Cohens Sozialismus gewesen, zumindest Rosenzweig zufolge.

Rosenzweig erzählte also gerne Anekdoten über Cohen?

Bienenstock: Ja, wobei viele dieser Anekdoten kritisch zu überprüfen wären, insbesondere diejenigen, die Cohens angebliche „Heimkehr“ zum Judentum betreffen. Denn Cohen hatte sein Judentum nie verleugnet, während Rosenzweig als junger Mann beinahe zum Christentum konvertiert war und dann erst „heimkehren“ wollte. Rosenzweig hat zwei "Hüte" getragen: denjenigen eines sehr begabten Historikers der deutschen Ideengeschichte – sein Werk „Hegel und der Staat“ wird heute von den Spezialist/innen gewürdigt –, aber auch denjenigen eines jüdischen Religionsdenkers, des Verfassers des Meisterwerks „Stern der Erlösung“.

Hermann Cohens „ethischer“ Sozialismus wurde auf sozialdemokratischen Kongressen damals heftig diskutiert. Franz Rosenzweig verehrte Cohen, obwohl er dessen politische Überzeugung nicht teilte.

Beide "Hüte" sind so unterschiedlich, ja entgegengesetzt, dass viele seiner späteren Leser/innen nicht glauben wollten, dass es sich um denselben Autor handelt. Rosenzweig hatte noch eine dritte Karriere: „Beruf: Briefschreiber“, so neckte ihn einmal seine Mutter. Er schrieb jeden Tag viele Briefe, an seine Mutter aber auch an seine große Liebe „Gritli“, die Frau seines Freundes Eugen Rosenstock. Gritli ist auch diejenige gewesen, die Rosenzweig zum Schreiben des „Stern der Erlösung“ anregte.

Die Titel der wichtigsten religionsphilosophischen Bücher der beiden könnten unterschiedlicher nicht klingen: „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ ist ein zentrales Buch Cohens, für ihn scheint Vernunft im Zentrum zu stehen, für seinen Schüler Rosenzweig die Erlösung. Wie verhält sich das zueinander?

Bienenstock: Als Hauptwort des Werkes von Rosenzweig würde ich eher „Liebe“ als „Stern“ oder „Erlösung“ wählen: er wollte erklären, dass Liebe gar nicht „rein menschlich“ sein kann, dass sie – genauer die Sprache der Liebe und die Sprache selbst – immer „sinnlich-übersinnlich“ sei, und es war diese These, die er im Zentrum, im „Herz“ seines Buches erörterte, und zwar anhand des Hohelieds derhebräischen Bibel. Cohen selber hat die wichtige Rolle des Hohelieds und der Liebe keineswegs verneint, doch hat er sie anders interpretiert: Er las die Liebe im Hohelied eher als eine messianische Metapher oder Allegorie. Aber es stimmt schon, dass die „Vernunft“ bei ihm in der Mitte steht. Doch wäre es äußerst übertrieben, wie dies viel zu oft getan wird, ihn zuallererst und nur als einen Erkenntnistheoretiker zu sehen.

Rosenzweig wollte erklären, dass Liebe gar nicht „rein menschlich“ sein kann, dass sie – genauer die Sprache der Liebe und die Sprache selbst – immer „sinnlich-übersinnlich“ sei.

Cohen und Rosenzweig gelten als eminent wichtige Vertreter jüdischen Denkens, wobei beide ihre philosophischen Wurzeln im deutschen Idealismus haben. Um welche philosophischen Fragen bzw. Themen geht es hier im Kern?

Bienenstock: Für Cohen war es die praktische Philosophie, genauer die Ethik, welche das Zentrum seiner Philosophie bildete. Die Ethik verstand er als die Lehre vom Begriff des Menschen – dies mag heute trivial erscheinen, Cohen hat aber auf dieser Basis Fragen gestellt, die bis heute hoch aktuell sind: So zum Beispiel, ob wir den „Menschen“ als Singular oder Plural verstehen müssen. Diese Frage der Pluralität hat auch Rosenzweig sehr beschäftigt, er hat sie aber anders als Cohen gefasst, als eine Frage der Identität – und der „Anerkennung“. Schon während des ersten Weltkriegs erörterte Rosenzweig seine Auffassung der Identität in einem Briefwechsel mit seinem Freund Rosenstock. Hier schreibt er: „Mein Ich entsteht im Du. Mit dem Du-sagen begreife ich, dass der Andre kein ‚Ding‘ ist, sondern ‚wie ich‘…“

Sowohl Hegel als auch Hermann Cohen haben die Rolle des Staats, also des Rechtsstaats sehr betont. Sie sind entschiedene Gegner all jener Bewegungen gewesen, die Gemeinschaft über den Staat setzen.

Es gab einmal, wie Sie es nennen, eine „goldene Epoche deutsch-jüdischer Philosophie“, die spätestens mit dem Nationalsozialismus ein brutales Ende fand. Ist diese Epoche, zu der Cohen und Rosenzweig gehörten, mittlerweile zu stark in Vergessenheit geraten und könnte oder sollte man sogar wieder an sie anknüpfen?

Bienenstock: Ich denke schon, dass wir an jene Epoche anknüpfen können – auch von jüdischer Seite; und es ist nicht nur Kant sondern auch Hegel, den ich hier nennen und in die Nähe Hermann Cohens rücken würde. Insbesondere hinsichtlich der Frage des Verhältnisses des Staats zur Religion ist das ziemlich aktuell. Sowohl Hegel als auch Hermann Cohen haben die Rolle des Staats, also des Rechtsstaats sehr betont. Sie sind entschiedene Gegner all jener Bewegungen gewesen, die Gemeinschaft über den Staat setzen.

Damit sind jene Bewegungen gemeint, die wir heute zum „Kommunitarismus“ zählen und stark kritisieren, jedenfalls in Frankreich. Natürlich betrifft eine solche Entgegensetzung zum Kommunitarismus nicht nur die Juden, sondern auch andere Religionen, also viele christliche und evangelische Gemeinschaften – und heute auch den Islam. Hier können uns Cohen, aber auch Rosenzweig und zuallererst Hegel gute Argumente an die Hand geben.

 

AUF EINEN BLICK

Myriam Bienenstock ist Professorin für Philosophie an der Université de Tours und eine international renommierte Spezialistin auf den Gebieten der modernen jüdischen Philosophie und des deutschen Idealismus, die sich eingehend mit Cohen und Rosenzweig befasst hat. 2018 erschien dazu ihr Buch „Cohen und Rosenzweig. Ihre Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus“ im Verlag Karl Alber.