19.05.2020 | Wirtschaftskrise nach Corona

"Arbeitslosenquote von 12 Prozent ist erst der Anfang"

Auf Österreich kommt eine schwere Wirtschaftskrise zu, sagt Ökonomin und ÖAW-Mitglied Monika Merz. Sie erklärt im Interview, was die Coronapandemie für Arbeitsmarkt und Branchen bedeutet und welche Möglichkeiten die Regierung hat, der drohenden Rezession zu begegnen.

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Die Finanzkrise von 2008/2009 traf auch Österreich merklich. Doch im Vergleich zur Wirtschaftskrise, die als Folge der Coronapandemie das Land bedroht, ist sie glimpflich verlaufen: “Die gesamtwirtschaftliche Produktion brach mit 3,5 Prozent damals vergleichsweise wenig ein“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Monika Merz. Derzeit hingegen sieht es düster aus am Konjunkturhimmel. Die Expertin befürchtet, dass die Arbeitslosenquote auf bis zu 14 Prozent klettern könnte: „Arbeitslosigkeit in diesem Ausmass hat es in der zweiten Republik noch nicht gegeben“, so das Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Doch Monika Merz sieht auch Licht am Ende des Tunnels. Wenn die Regierung jetzt ein passendes Konjunkturpaket schnürt und die richtigen Anreize schafft, kann eine zukunftsträchtige Wirtschaftsstruktur entstehen. „Ich sehe viel Entwicklungs- und damit auch Beschäftigungspotential in den Bereichen Medizintechnik und Gesundheit, Umwelt, Digitalisierung von Dienstleistungen und Produktion sowie Bio-Technologie.“

Welche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat die Krise in Österreich bisher?

Monika Merz: Seit Ende März sehen wir einen rasanten Anstieg der gemeldeten Arbeitslosen. Auch die Kurzarbeit ist explodiert und betraf Ende April bereits 1,25 Millionen Werktätige. Das sind aus meiner Sicht Fälle, die noch nicht arbeitslos gemeldet wurden, weil die Betriebe hoffen, die Krise unbeschadet zu überstehen. Die Regierung hat die Mittel für Kurzarbeit inzwischen auf sieben Milliarden Euro aufgestockt. Wir hatten Ende März 563.000 Arbeitslose, die gemessene Quote erreichte Ende April schon fast 12 Prozent nach der international üblichen Bemessungsmethode. Nach österreichischer Definition liegt dieser Wert etwas höher.

Obwohl die Arbeitslosenquote für Österreich bereits jetzt extrem hoch ausfällt, befürchte ich, dass sie noch weiter ansteigt.

Wie ist das einzuordnen?

Merz: Obwohl die Arbeitslosenquote für Österreich bereits jetzt extrem hoch ausfällt, befürchte ich, dass sie noch weiter ansteigt. Denn die drohende Rezession ist einschneidend und hält vermutlich lang an, weil die gesamte Welt betroffen ist. Einige Betriebe werden das nicht überleben und ihre Beschäftigten entlassen. Die wiederholte Aufstockung der Mittel für Kurzarbeit lässt erahnen, dass die Arbeitslosenquote weiter steigen kann. Zum Vergleich: In der Finanzkrise 2008/09 übertraf die Quote nie 6 Prozent. 

Welche Branchen sind besonders betroffen?

Merz: Wenig überraschend sind die Bereiche, die eine überproportional grosse Bedeutung für Österreichs Wirtschaft haben, stark betroffen. Das sind der Handel, das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie die produzierende Industrie mit dem Maschinenbau und den Autozulieferern. Die Krise macht sichtbar, auf welche Sektoren verschiedene Länder besonders angewiesen sind. In Deutschland ist das etwa die Automobilindustrie.

Wie wird sich die Arbeitslosigkeit entwickeln?

Merz: Ich bin keine Hellseherin. Ich halte es aber für durchaus möglich, dass wir in ein bis zwei Monaten eine Arbeitslosenquote von bis zu 14 Prozent haben werden, weil ein Teil derer, die sich jetzt noch in Kurzarbeit befinden, ihren Arbeitsplatz verlieren. Arbeitslosigkeit in diesem Ausmass hat es in der zweiten Republik noch nicht gegeben.

Wir haben es mit einer schweren Wirtschaftskrise zu tun, die sich natürlich nicht auf Österreich beschränkt.

Wann ist mit einer Erholung zu rechnen?

Merz: Das hängt davon ab, wie lange die Pandemie andauert. Das kann von ein paar Monaten bis zu mehreren Jahren dauern. Wir haben es mit einer schweren Wirtschaftskrise zu tun, die sich natürlich nicht auf Österreich beschränkt. 2008/09 ist das Land sehr glimpflich davongekommen, es gab hierzulande keine Blasen, die gesamtwirtschaftliche Produktion brach mit 3,5 Prozent vergleichsweise wenig ein. Die damalige Krise war aber von ihren Ursachen und vom Verlauf her völlig anders geartet als die jetzige. Diesmal brechen Angebot und Nachfrage im grossen Stil weg und Österreich steckt mittendrin.

Wie können Staaten die Auswirkungen der Krise auf die Arbeitsmärkte minimieren?

Merz: Derzeit liest man überall, dass der wirtschaftliche Einbruch und die Rezession unmittelbar bevorstehen. Das ist zweifellos richtig. Was fehlt ist die Analyse des anhaltenden Strukturwandels, der beispielsweise im Maschinenbau und bei den Autozulieferern schon lange vor der aktuellen Krise begonnen hat. Regierungen sollten eine ehrliche Bestandsaufnahme durchführen und keine Betriebe mit öffentlichen Geldern am Leben halten, die auf absehbare Zeit sowieso insolvent werden. Ich halte auch die Finanzierung von Kurzarbeit in solchen Betrieben für sehr bedenklich. Insolvenzen und Arbeitslosigkeit können in einer Krise nicht um jeden Preis vermieden werden. Schliesslich gibt es ein funktionsfähiges Sozialsystem sowie Fortbildungs- und Umschulungsprogramme für die Betroffenen.

Was heißt das für Österreich?

Merz: Teile der Industriestruktur hierzulande sind sehr krisenanfällig. Das gilt insbesondere für den Tourismus, aber auch für das produzierende Gewerbe. Beide Bereiche machen fast 50 Prozent der Bruttowertschöpfung des Landes aus. In einer langen Krise werden solche Risiken schonungslos aufgedeckt und es sterben Betriebe, deren Finanzpolster nicht dick genug ist. Wie in Deutschland ist auch in Österreich der Digitalisierungsgrad zentraler Sektoren unterentwickelt. Das gilt beispielsweise für den Maschinenbau, dem dadurch der Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit droht. Aber auch im Dienstleistungs- und Bildungsbereich muss digital kräftig aufgerüstet werden.

In Anbetracht der Schwere der Wirtschaftskrise ist ein Konjunkturpaket größeren Umfangs unumgänglich. Ein solches muss neben dem Privatkonsum vor allem private und öffentliche Investitionen fördern, denn letztere sind in Österreich notorisch niedrig.

Wie beurteilen Sie die bisherige Reaktion der Regierung?

Merz: Die Regierung hat sehr entschlossen und tatkräftig reagiert und zur Abwendung von Insolvenzen und Arbeitsplatzverlust sehr vielen Unternehmen Finanzmittel aus Hilfsfonds sowie Garantien für Kredite zugesagt. Damit hat sie den Betrieben vorübergehend Erleichterung verschafft, was nötig und sinnvoll war. Aber diese Hilfen sind natürlich nicht grenzenlos möglich, denn schliesslich muss gegebenenfalls der Steuerzahler am Ende dafür geradestehen. Kurzarbeit ist als ein Mittel zur kurzfristigen Krisenbekämpfung konzipiert und soll es Betrieben ermöglichen, ihren Bestand an Arbeitskräften über die Rezession hinaus zu retten. Wenn die Rezession aber einschneidend und langanhaltend ist, dann ist Kurzarbeit deutlich zu teuer und sicherlich das falsche Mittel. Ich frage mich, wer kontrolliert, wohin diese öffentlichen Gelder fließen und ob sie sinnvoll verwendet werden. Angesichts der aktuell sehr hohen Inanspruchnahme ist zu befürchten, dass die tatsächlichen Kontrollen, die vor Mitnahmeeffekten durch die Betriebe schützen sollen, ebenfalls teuer, aber unzureichend sind.

Was sollte die Regierung anders machen?

Merz: Um die allfälligen Anpassungen in der Industriestruktur zu erreichen, müssen die Verantwortlichen mithilfe gezielter Steuer- und Anreizpolitiken darauf hinwirken, dass die Wirtschaftsstruktur zukunftsträchtig und resilient gestaltet wird. Das heisst konkret eine stärkere Diversifizierung wirtschaftlicher Aktivitäten. Hinzu kommt der dringende Nachholbedarf in der Digitalisierung zentraler Bereiche. Die Regierung könnte hier nachhelfen, indem sie Anreize für Digitalisierung von Dienstleistungen, aber auch von Produktionsstrukturen bietet, damit diese international wettbewerbsfähig bleiben. In Anbetracht der Schwere der Wirtschaftskrise ist ein Konjunkturpaket größeren Umfangs unumgänglich. Ein solches muss neben dem Privatkonsum vor allem private und öffentliche Investitionen fördern, denn letztere sind in Österreich notorisch niedrig. Denkbar sind Investitionen in eine moderne Verkehrsinfrastruktur, wodurch eine Verkehrswende beschleunigt werden kann, v.a. wenn sie gemeinsam mit den europäischen Nachbarn erfolgt.

Haben wir genug sinnvolle Arbeit für alle?

Merz: Wir leben in einer Marktwirtschaft, in der eine kreative Unternehmerschaft profitable Bereiche identifiziert und dann kultiviert. Ich sehe viel Entwicklungs- und damit auch Beschäftigungspotential in den Bereichen Medizintechnik und Gesundheit, Umwelt, Digitalisierung von Dienstleistungen und Produktion sowie Bio-Technologie. Dass der Tourismus und Teile der bestehenden Industrien, die bis zum Ausbruch der Krise sehr viele Personen beschäftigt haben, auch zukünftig sichere und lukrative Jobs schaffen, wage ich zu bezweifeln.

Wirtschaft und Ökologie müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Hier könnte Europa, dessen Industrien bereits ziemlich sauber sind, eine Führungsrolle einnehmen.

Sollten wir Industrien, die schlecht für die Umwelt sind, überhaupt retten?

Merz: Wirtschaft und Ökologie müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Hier könnte Europa, dessen Industrien bereits ziemlich sauber sind, eine Führungsrolle einnehmen. Wenn ein Land wie Österreich mit seinen hervorragend ausgebildeten Arbeitskräften, seinem technischen Know-How und seiner Finanzkraft noch stärker als bisher auf Innovation in diesem Bereich setzt, dann kann es dabei durchaus zum Vorreiter werden.

In der Krise wird sichtbar, welche Berufe das öffentliche Leben am Laufen halten. Wird das honoriert werden?

Merz: Ich würde Kassierer/innen und Alten- und Krankenpfleger/innen wünschen, dass sie entsprechend ihrer Leistungen deutlich besser entlohnt werden und mehr Anerkennung erfahren. Uns allen muss aber klar sein, dass dies konkret höhere Preise an der Kasse im Supermarkt sowie höhere Versicherungsbeiträge für uns alle bedeutet.

Was schadet Wirtschaft und Arbeitsmarkt mehr, die Krankheit oder die Gegenmaßnahmen?

Merz: Der Lockdown schadet der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt deutlich mehr als die Krankheit. Die Ökonomin sagt: Die Vermeidung von Toten ist natürlich ein hohes Gut. Aber da gibt es eine wirtschaftliche Kehrseite. Was bringt es uns, wenn wir zwar Leben retten, die Menschen aber nichts mehr zu essen haben? Schon jetzt ist absehbar, dass die wirtschaftlichen Kosten im Zusammenhang mit Corona enorm sein werden. Daher muss die Politik zwischen dem Gesundheitsschutz und den wirtschaftlichen Schäden abwägen.

 

AUF EINEN BLICK

Monika Merz ist Professorin am Department of Economics der Universität Wien und korrespondierendes Mitglied der ÖAW. Zuvor forschte sie unter anderem an der Universität Bonn und der Rice University in Houston, USA.