25.10.2024

Glaubten die alten Griechen an ihre Mythen?

Religionswissenschafter Jan Bremmer zu Atheismus, Zweifel und Glauben in der Antike

Skulpturen der griechischen Götter auf dem Gebäude der Nationalen Akademie in Athen, Griechenland © Adobe Stock

Die griechische Mythologie ist ein wiederkehrender Trend in der Literatur und Popkultur. Von Blockbuster-Filmen wie Troja bis hin zu modernen Nacherzählungen berühmter Mythen wie Ich bin Circe – die antiken Geschichten über Götter und Helden finden auch heute noch Anklang. Aber glaubten die alten Griechen selbst an ihre Gottheiten? Im Rahmen einer Konferenz am Österreichischen Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hält Jan Bremmer, emeritierter Professor für Religionswissenschaft an der Universität Groningen und Mitglied der ÖAW, einen Vortrag zu Atheismus, Zweifel und Glauben in der Antike.

Die Rolle der griechischen Mythologie

Wie wichtig war die Mythologie für die alten Griech:innen?

Jan Bremmer: Die antike Mythologie war in vielerlei Hinsicht wichtig, denn die alten Griech:innen hatten keine heilige Schrift, keine Bibel. Sie hatten die Geschichten über ihre Götter. Diese Geschichten zeigen die Macht, aber auch die Hilflosigkeit der Götter. In gewisser Weise fungierte Mythologie also als mündliche heilige Schrift, die nicht kanonisiert wurde.

Wenn die Götter anthropomorph sind, dann weil wir anthropomorph sind. Wenn wir aber Pferde wären, dann würden unsere Götter auch wie Pferde aussehen.

Wenn es keinen fixen Kanon gab, wie wurde dann ein Konsens über die Mythen, die Götter und die religiösen Praktiken gefunden?

Bremmer: Das ist eine gute Frage. Man sagt, die Dichter Homer und Hesiod hätten den Göttern ihre Form gegeben - das ist vielleicht übertrieben, aber im Grunde haben die Dichter und die Menschen, die die Mythen erzählten, bis etwa 500 v. Chr. das Denken über die Götter geprägt. Dann kamen die ersten Philosophen und begannen, über Religion nachzudenken. Der Philosoph Xenophanes zum Beispiel sagte um das Jahr 500 v. Chr.: "Wenn die Götter anthropomorph (von menschlicher Gestalt, Anm.) sind, dann deshalb, weil wir anthropomorph sind. Wenn wir aber Pferde wären, dann würden unsere Götter auch wie Pferde aussehen." Im antiken Griechenland gab es also offensichtlich eine große Freiheit, über Religion nachzudenken. Die Offenheit, über Religion zu sprechen, hing allerdings auch von der politischen Situation ab.

Der Ursprung der Mythen

Wann entstanden die Mythen?

Bremmer: Einige Mythen scheinen bis in die indogermanische Zeit zurückzureichen. Sie sind also sehr alt. Zum Beispiel gibt es schon im zweiten Jahrtausend vor Christus Erwähnungen von Zeus und seiner Frau oder vom Gott Poseidon und seiner Frau. Viele Mythen entstanden jedoch in der archaischen Zeit zwischen 800 und 500 v. Chr. in Griechenland.

Bis etwa 400 v. Chr. war es eine Gesellschaft, in der Information vor allem mündlich weitergegeben wurde.

Wie wurden die Mythen überliefert?

Bremmer: Sie wurden mündlich überliefert, zum Beispiel von Menschen, die bei Festen Stücke wie die Ilias aufführten. Wir wissen nicht genau, wann sie zum ersten Mal auf Papier, bzw. auf Papyrus oder Pergament festgehalten wurden, aber wir glauben, es war um 600 vor Christus. Bis etwa 400 v. Chr. war es eine Gesellschaft, in der Information vor allem mündlich weitergegeben wurde. Im letzten Teil des 5. Jahrhunderts sehen wir, dass die Alphabetisierung immer wichtiger wird. Allerdings waren Bücher in der Antike nie billig, so dass es eine große Debatte darüber gibt, wie gebildet die Menschen in der Antike tatsächlich waren. Wir müssen davon ausgehen, dass nur ein relativ kleiner Prozentsatz der Menschen ein Buch besaß und lesen konnte.

Religiosität und Atheismus

Was bedeutete es, im antiken Griechenland religiös zu sein?

Bremmer: Ich glaube nicht, dass die Menschen eine Vorstellung davon hatten, religiös oder nicht religiös zu sein. Das liegt daran, dass Religion heute in den meisten westlichen Ländern in die private Sphäre unseres Lebens gedrängt wird, die getrennt ist von der öffentlichen. In der Antike war Religion aber ein integraler Bestandteil der Gesellschaft. Überall sah man Statuen. Wenn man einen Eid schwor, tat man das vor den Göttern. Geburt, Reife, Tod – alles wurde in einen religiösen Kontext gestellt. Es bestand also keine Notwendigkeit für einen separaten Begriff für Religion. Das macht es auch schwierig, einen modernen Begriff wie Atheismus auf die Antike anzuwenden.

Atheos bezeichnete eine gottlose Handlung.

Wie können wir uns dann den Atheismus in der Antike vorstellen?

Bremmer: Die Griech:innen kannten das Wort atheos, das über das Französische als ‚atheism‘ ins Englische und als ‚Atheismus‘ ins Deutsche gekommen ist. Es bezeichnete eine gottlose Handlung, die dagegen verstößt, was die Götter von uns erwarten oder was zivilisierte Menschen tun sollten. Platon verwendete das Wort einmal, um jemanden zu bezeichnen, der nicht an die Götter glaubt oder nicht glaubt, dass es sie gibt.

Wie äußerte sich Skepsis gegenüber religiösen Praktiken oder Ideen?

Bremmer: Ja, es gab ein Ereignis, das dazu führte, dass viele Menschen ihren Glauben verloren. Um 430 vor Christus brach in Athen eine schreckliche Seuche aus. Es war so schlimm, dass die Menschen an der Existenz der Götter zu zweifeln begannen. Auch manche Philosophen waren skeptisch. Es gibt einen berühmten Ausspruch von Protagoras über die Götter: „Ich weiß nicht, ob es sie gibt oder nicht“. Auch in den Tragödien, vor allem von Euripides, sagen einige, vor allem junge, Figuren, dass es keine Götter gibt. Es ist nicht immer klar, wie das zu interpretieren ist. Es könnte sein, das sie das aus Wut oder Frustration sagen, nicht aus einer tiefen Reflexion heraus. Genauso könnte dieser Zweifel an der Religion aber, zumal er eben vor allem von jungen Figuren geäußert wird, als Akt der Rebellion betrachtet werden.

Der Prozess gegen Sokrates

Gab es irgendeine Art von Strafe für das offene Infragestellen der Religion?

Bremmer: Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten nach 430 v. Chr. sind uns drei Prozesse bekannt, in denen der Widerstand gegen die etablierte Religion eine wichtige Rolle spielt. In einem Fall ging es um Personen, die die Eleusinischen Mysterien, das heiligste aller Rituale, nachahmten und verspotteten. In einem anderen Prozess ging es um die Enthauptung von Statuen des Gottes Hermes, die viele Athener vor ihren Häusern aufgestellt hatten. Einige der Schuldigen konnten entkommen, andere wurden tatsächlich hingerichtet. Schließlich gab es den berühmten Prozess gegen Sokrates, der unter anderem wegen Gottlosigkeit zum Tod verurteilt wurde.

Es gibt viele moderne Nacherzählungen, sodass sie auch zu einem Trend geworden sind.

Warum ist die griechische Mythologie heute noch so beliebt?

Bremmer: Die griechische Mythologie gilt als Teil einer ‚guten Bildung‘, insbesondere in der Tradition des deutschen Bildungsbürgertums. Aber mir fällt auf, dass die griechische Mythologie gerade in den letzten zehn Jahren wieder sehr populär geworden ist. Es gibt viele moderne Nacherzählungen, sodass sie auch zu einem Trend geworden sind. Der Grund für ihre Beliebtheit könnte darin liegen, dass es gute Geschichten sind und dass sie für jeden von uns etwas bieten.

 

AUF EINEN BLICK

Jan Bremmer ist emeritierter Professor für Religionswissenschaft an der Universität Groningen. Seit 2021 ist er Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Auf der Konferenz „Skepsis, Unglaube und theologische Reflexion. Auf den Spuren der Erzählungen von religiösem Zweifel und Abweichung in antiken Kontexten“ am Österreichischen Archäologischen Institut wird er die Keynote Lecture mit dem Titel „Atheismus, Zweifel, Glaube und Überzeugung: Sind sie typisch für die Antike?“ halten.