Zensus und Ethnizität: Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910

Dr. Wolfgang Göderle
 

Die vorliegende Dissertation setzt sich mit der Etablierung von Ethnizität als neuem „Herrensignifikanten“ im Kontext Zentraleuropas zwischen ca. 1850 und 1910 auseinander. Als grundlegende Quelle dient dabei der Zensus, weitere Quellenbestände aus dessen Umfeld wurden in beträchtlichem Ausmaß herangezogen. Das betrifft vor allem den administrativstatistisch-wissenschaftlichen Diskurs, einschlägige  Auseinandersetzungen auf einer breiteren medialen Ebene, und Materialien, die insbesondere mit repräsentativem Anspruch hergestellt wurden. In diese letztgenannte Kategorie fallen Kartenwerke, Bücher, Zeitschriftenreihen und andere Publikationsprojekte, die zentral auf das im Rahmen der Volkszählung hergestellte Wissen zurückgriffen.

Theoretisch geht die Arbeit von einem Ansatz aus, der Elemente der cultural studies mit neueren Zugängen der Kulturwissenschaften zusammenführt. Dabei werden zunächst zwei für die Moderne zentrale Differenzkategorien definiert, neben Ethnizität ist das auch Geschlecht. In weiterer Folge werden diese beiden Kategorien auf die Bedingungen ihrer spezifischen Konstruktion vor konkreten Kontexten hin untersucht. Der dabei zur Anwendung kommende Zugang ist in diesem Feld soweit nicht neu (mit Ausnahme der starken Gewichtung postkolonialer Theoriebildung die dabei zum Tragen kommt) und hat sich in der jüngeren Vergangenheit gut bewährt. Erweitert und präzisiert wird dieser theoretische Ansatz durch die Einführung von zwei weiteren theoretischen Komplexen: Einerseits Raum und Raumtheorie, andererseits Wissen und science studies. Diese ergänzenden Modifizierungen des Forschungsdesigns erlauben eine überaus genaue Ausleuchtung der Stabilisierungsbedingungen der untersuchten Kontexte.

Dabei wird kein Anspruch geltend gemacht, die zur Anwendung kommenden theoretischen Zugänge zu synthetisieren. Vielmehr wird, wie von Gérard Noiriel in einer socio-histoire vorgeschlagen, das theoretisch-methodische Moment als Werkzeug betrachtet und herangezogen, um spezifische und genau definierte Fragestellungen mit adaptierten und ausgewählten tools bearbeiten zu können.
Der empirische Teil der Untersuchung gliedert sich in drei Teile, die um den Zensus herum angeordnet sind.

Der erste Teil konzentriert sich auf die Volkszählung als administrative und wissenschaftliche Praxis. Dabei liegt der Untersuchungsschwerpunkt auf den Praktiken, die dabei zur Anwendung kommen. Ziel ist es, die Herstellung von wirkmächtigen und soziale Realitäten strukturierenden Entitäten wie ‚Bevölkerung’ durch die das Zensusverfahren in seine Einzelschritte zu zerlegen und auf diese auf ihre epistemische Relevanz hin zu untersuchen. Ausgehend von Zählungsoperaten, Berichten der statistischen Central–Commission, Verwaltungsdokumenten die die letztere hinterlassen hat, und der Kontextualisierung des Prozesses vor einem breiteren Hintergrund, wird die Volkszählung des Jahres 1869 seziert und in ihre Einzelschritte zerlegt. Zur theoretischen Modellierung und methodologischen Annäherung an den Untersuchungsgegenstand wurde ein von Bruno Latour entwickeltes und in den 1990ern erstmalig erfolgreich angewandtes Verfahren nutzbar gemacht, das zirkulierende Referenz  in das Zentrum des Vorganges der Wissensherstellung rückt. Es zeigt sich im ersten Teil der Untersuchung, dass soziale Wirklichkeiten durch die bürokratische Erfassung von Einzelaspekten, die in der Folge mehrfacher Aggregation unterzogen werden, eine Deformation erfahren, die bidirektional gedacht werden muss: Die Verwaltung bildet nicht nur in mächtigen Großrepräsentationen ab, was sie zu sehen überzeugt ist, sie spiegelt die Ordnungskategorien auch wieder zurück auf und in die Realität. Das legt es nahe, das Verhältnis zwischen Staat und BürgerInnen in der Moderne als Ausverhandlung zu modellieren. Als weiteres Ergebnis der Untersuchung lässt sich festhalten, dass Konzeptionen von Raum und konkrete Verfahren, diesen unter Kontrolle zu bringen, als Machttechnik von grundlegender Bedeutung für die Verwaltung sind.

Im zweiten Teil der Arbeit rücken die Akteure (der männliche Plural reflektiert die Quellenlage) der Volkszählungsvornahme in die Schärfeebene der Untersuchung ein. Wer organisiert den Zensus, und wie ist das im Diskurs vielbeschworene Begriffspaar Administration und Wissenschaft genau zu modellieren? Welche wissenschaftlichen Ideale werden verfolgt? Vor dem Hintergrund einer stärkeren Verortung der administrativstatistischen Entwicklung im Habsburgerreich in einem gesamteuropäischen Zusammenhang wird zunächst eine allgemeinere Perspektive auf eine Geschichte der Objektivität, wie von Lorraine Daston und Peter Galison erarbeitet, entwickelt. Daran knüpft eine Langzeitperspektive auf die habsburgische Administrativstatistik an. Aus der Verbindung dieser beiden Ebenen ergeben sich wesentliche analytische Potentiale zur Beantwortung der aufgeworfenen Forschungsfragen. Die untersuchte Evidenz legt es nahe, Administration und Wissenschaft im statistischen Kontext bis in die 1880er Jahre nicht trennscharf zu denken. Ein zwar dem wissenschaftlichen Ideal der Naturwahrheit verschriebenes Akteurskollektiv von Beamten legt zwar wissenschaftliche Sichtachsen auf das Volkszählungsunternehmen frei, es muss dies jedoch vor dem Hintergrund  eines Beamtentums gesehen werden, das in seiner grundlegenden Funktionsweise noch stark an im Aufgeklärten Absolutismus entworfene Funktionsmuster und Abläufe anknüpft. Beamte und Wissenschafter sind als Personalunion zu betrachten, was im zeitlichen Kontext des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts noch keineswegs unüblich erscheint. Erst in den 1880er Jahren geht mit der Etablierung einer neuen epistemischen Tugend eine Weiterentwicklung hin zu einem professionellen Berufswissenschaftertum einher. Diese Entwicklung vollzieht sich vor dem Hintergrund komplexer Rahmenbedingungen: Die Internationalisierung des administrativstatistischen Diskurses ist dabei ebenso ins Treffen zu führen wie die Auseinandersetzung um die Etablierung der Umgangssprachenzählung und eine administrative Krise.

Im dritten Teil der Untersuchung geht es zentral um Praktiken der Dissemination und Strategien der Projektion. Welche Repräsentationsformen nehmen entscheidend Einfluss auf die Art und Weise, wie das Habsburgerreich nach innen und außen dargestellt wird? Welche Techniken dienen einer Durchethnisierung der Verwaltungsperspektive und wie werden diese wissenschaftlich legitimiert und abgesichert? Dabei werden der Reihe nach die ethnographische Karte von Czoernig, die „Zigeuner-Conscriptionen“ der österreichischen und der ungarischen Reichshälfte, das Kronprinzenwerk und die Einrichtung und Entwicklung ethnographischer, ethnologischer und anthropologischer Forschungsfelder untersucht. So kann ein Zeitraum von den 1840ern bis in das frühe 20. Jahrhundert mitberücksichtigt werden. Es zeigt sich zunächst, dass Verwaltungswissen in dieser Spanne einer umfassenden Verschiebung unterliegt: Vom exklusiven fürstlichen Machtwissen entwickelt es sich immer stärker hin zu einer Ressource einer neu entstehenden Öffentlichkeit. Bilder des Staates und Perspektiven auf dessen ethnisierte Gestalt werden verbreitet und mit anderen Medien verbunden spätestens zu Beginn der 1880er zu wirkmächtigen Repräsentationen die Einfluss darauf nehmen, wie BürgerInnen selbst den Staat sehen, und beginnen, eine Beziehung zu diesem zu entwickeln und sich selbst in einer Logik zu verorten, die vom (National-)Staat als Kernobjekt einer Weltsicht getragen ist. Zur Weiterentwicklung und Absicherung dieser sich rapide etablierenden und mit den grundlegenden Idealen der Moderne harmonierenden Perspektive ist die Administration dazu genötigt, weiteres und detaillierteres Wissen hervorzubringen. Die „Zigeuner-Conscriptionen“ legen Zeugnis davon ab, wie administrative Herangehensweisen und –verfahren immer stärker in den Sog einer Wissenschaftlichkeit geraten, deren nach außen hin wachsende Legitimität entgegengesetzten Tendenzen nach innen gegenübersteht.

Aus der Gesamtschau ergibt sich ein differenziertes Bild auf die Durchethnisierung Zentraleuropas durch administrative Eingriffe, die wissenschaftlich abgesichert und legitimiert waren, in den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1910. Die Erzeugung dezidiert ethnischen Wissens, dessen Codierung durch die Verschränkung mit einer Raumordnung, die die Containerräumlichkeit des Nationalen antizipiert, und dessen Dissemination durch wirkmächtige Repräsentationen in einer entstehenden und sich rapide verbreiternden Öffentlichkeit greifen in einer komplexen Art und Weise ineinander. In der vorliegenden Arbeit wurde dabei nicht nach Intention oder Verantwortung gefragt, sondern vermittels theoretischer Ansätze der ANT ein Modell entwickelt, das dazu in der Lage ist, Akteur-Netzwerke zu benennen, und die Dynamiken und Kontingenzen des Geschehens auf einer breiteren Ebene abzubilden.