01.03.2021

Fürsten im Schnittpunkt der Kulturen

Neues ÖAW-Langzeitprojekt zu den südlangobardischen Herrscherurkunden

Ausschnitt aus einer Urkunde des Fürsten Aio von Benevent aus dem Jahr 885 (Montecassino, Archivio dell’Abbazia, Aula III, Capsula XII, n. 21; Foto: ChLA vol. 53, n. 11, S. 75; mit freundlicher Genehmigung des Urs-Graf-Verlages).

Mit 1. Jänner 2021 hat das Präsidium der ÖAW auf der Grundlage hervorragender internationaler Fachgutachten das Projekt Codice Diplomatico Longobardo (CDL) in sein Programm der Langzeitprojekte aufgenommen und am Institut für Mittelalterforschung (IMAFO) / Abteilung Editionsunternehmen und Quellenforschung – MIR angesiedelt. Primäres Ziel dieses Projektes, das in enger Kooperation mit dem Istituto Storico Italiano per il Medioevo (ISIME) und dem Institut de Recherche et d’Histoire des Textes (IRHT) durchgeführt wird, ist die vollständige, kritische und umfangreich kommentierte Edition der Urkunden der südlangobardischen Fürsten von Benevent, Capua und Salerno. Editions- und Forschungsgegenstand sind also die rund 400 von diesen Herrschern ausgestellten Urkunden aus der Zeit von 774–1077, von denen rund 300 im Volltext und davon wiederum rund 50 Prozent im Original erhalten sind.

Das von Bernhard Zeller geleitete Langzeitprojekt setzt die Arbeiten von Herbert Zielinski fort, der im Rahmen des CDL die südlangobardischen Herzogs- und Privaturkunden bis zum „Epochenjahr“ 774 ediert hat, d. h. bis zur Unterwerfung des (norditalischen) Langobardenreiches durch die fränkischen Heere Karls des Großen. Das Projekt widmet sich nun den Urkunden der nach 774 unabhängig gebliebenen (süd)langobardischen Herrscher von Benevent, Capua und Salerno, die bis zur Machtübernahme durch die Normannen im 11. Jahrhundert – und im Spannungsfeld von fränkisch-deutschen, päpstlichen, byzantinischen und muslimischen Interessen – als mehr oder weniger unabhängige Fürsten (principes) große Teile Süditaliens beherrschten.

Aus mehreren Gründen verdienen die südlangobardischen Fürstenurkunden das besondere Interesse der Forschung: wegen ihrer Stellung zwischen einfacher (privater) Carta und Herrscherurkunde und ihrer relativ früh einsetzenden, gerade im 10. Jahrhundert schon sehr reichen Originalüberlieferung; wegen ihrer Beeinflussung durch fränkische und byzantinische Vorbilder sowie wegen ihres eigenen Einflusses auf die spätere normannische Herrscherurkunde Süditaliens. Aber auch für eine Reihe anderer hilfswissenschaftlicher Disziplinen wie die Paläographie, die Sphragistik und die Numismatik sind die Urkunden hochinteressant.

Die Urkunden der Fürsten von Benevent, Capua und Salerno sind aber natürlich auch eine zentrale Quelle für praktisch jede Art der historischen Forschung über Süditalien vom 8. bis zum 11. Jahrhundert. Vor allem für die vielfältige und wechselhafte allgemeine (politische) Geschichte sowie für die Rechts- und Verfassungsgeschichte bieten die Urkunden einzigartiges Material. Aber auch für vielfältige wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen, für kultur- und kirchenhistorische Fragestellungen sowie für prosopographische Forschungen stellen die Urkunden ein wichtiges Quellenkorpus dar.

Schließlich sind die Urkunden auch für die philologischen Nachbardisziplinen (Latinistik, Romanistik, Germanistik) von nicht geringer Bedeutung, bieten sie doch reiches Namensgut, das mitunter Rückschlüsse auf die ethnischen, sozialen und kulturellen Hintergründe der Namensträger erlaubt. Aber auch die lateinischen Texte der Dokumente, in denen immer wieder langobardische Termini technici eingestreut wurden und in denen im 10. Jahrhundert erstmals Formulierungen in einer vulgärlateinisch-protoromanischen Volkssprache auftauchen, stellen für philologische Forschungen ein reiches Quellenmaterial bereit.

Das Vorhaben wird von einem hochkarätigen wissenschaftlichen Beirat begleitet, dem ausgewiesene internationale Expertinnen und Experten angehören. Mit Vorliegen aller für eine erfolgreiche Durchführung des Projektes notwendigen Rahmenbedingungen konnten die Editions- und Forschungsarbeiten an diesem in vielerlei Hinsicht einzigartigen Quellenkorpus des frühen Mittelalters mit Jahresbeginn aufgenommen werden.

 

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