Projekt

Soziologie in und aus Österreich. Von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

Das Ziel des Projekts ist die Darstellung der Soziologie in und aus Österreich vom 18. Jahrhundert bis zum Jahr 1945: der Entwicklung ihrer bedeutsamsten Inhalte und Methoden durch nach wie vor bekannte, aber auch durch heute weitgehend vergessene Fachvertreter, ferner der Wechselbeziehungen der Soziologie sowohl mit den Nachbarfächern als auch mit einschlägigen Forschungen außerhalb Österreichs. Die Projektarbeit gliedert sich in drei Teile.

(1) Im ersten Teil ging es um die Soziologie in der Habsburgermonarchie im Zeitraum von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. In die Darstellung wurden nicht nur die deutschsprachigen Länder der Habsburgermonarchie einbezogen, sondern auch die nicht-deutschsprachigen Kronländer. In dem Sammelband Die Soziologie und ihre Nachbardisziplinen im Habsburgerreich.Ein Kompendium internationaler Forschungen zu den Kulturwissenschaften in Zentraleuropa (hrsg. v. Karl Acham), der im Jahr 2020 im Verlag Böhlau Wien erschienen ist, wirkten deshalb unter anderem auch Fachleute aus der Tschechischen Republik, aus Polen, Ungarn, Serbien, Kroatien, Slowenien und Italien mit.

Projektleitung

Mit der Publikation des auf den ersten Teil des Forschungsprojektes bezogenen Sammelbandes war die Absicht verbunden darzulegen, wie sehr die Soziologie einerseits in ihrer Formierungsphase durch verschiedene Geistes- und Sozialwissenschaften angeregt wurde, andererseits aber in der Folge auf diese anregend wirkte. Dabei wurde gezeigt, wie originäre, über den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinausweisende soziologische Einsichten zu einer Zeit gewonnen wurden, in der die Soziologie als eigene akademische Disziplin weitestgehend noch gar nicht institutionalisiert war. Es gibt in Österreich bislang keine Darstellung der Soziologie, die auch nur einigermaßen der Vielgestaltigkeit und dem gedanklichen Reichtum der einschlägigen Forschungen sowohl in der Habsburgermonarchie als auch in der Zeit bis 1945 angemessen Rechnung trägt.

(2) War der erste Teil der Projektarbeit bezogen auf die vielsprachigen Kronländer der Habsburgermonarchie, so geht es im zweiten Teil, in der Darstellung und Analyse der Soziologie der Zwischenkriegszeit, um die Hauptströmungen und die zentralen Themen der Soziologie, die nicht allein in Österreich, sondern auch Deutschlands und in der deutschsprachigen Schweiz Ausdruck fanden.

Für die Geschichte der Soziologie im deutschsprachigen Raum ist die Zwischenkriegszeit von besonderer Bedeutung. Das gilt sowohl für die Institutionalisierung des Faches, als auch für die Probleme, denen es sich zuwandte sowie seine Ideen- und Methodengeschichte. In jener Zeit werden die ersten Lehrstühle für Soziologie geschaffen, soziologische Institute werden eingerichtet und soziologische Fachzeitschriften gegründet. Diese Institutionalisierungsprozesse vollzogen sich vor dem Hintergrund des eben erst erlebten Ersten Weltkriegs und gewaltiger wirtschaftlicher, sozialer und politischer Konflikte, die auf ihn folgten und die auch in einer kulturellen Krise Ausdruck fanden. Von der Soziologie als neuem vielversprechenden akademischen Fach erhoffte man sich Lösungswege aus dieser für viele Menschen bedrängenden Lage. Auch wenn Zeitgenossen, sowohl Politiker wie Wissenschaftler, die Hoffnung hegten, die Soziologie möge zur Konfliktbeilegung und zu einer neuen geistigen Synthese beitragen, so zeigte sich doch schnell, dass sich rasch unterschiedliche politische Denkschulen mit sehr unterschiedlichen, oft sogar antagonistischen Programmen innerhalb der Disziplin herausbildeten. Die Vorschläge zur Lösung sozialer Probleme waren voneinander entsprechend verschieden, und nicht immer bestimmten sachliche Orientierungen die Fachvertreter der Soziologie. Aus der Distanz von rund 100 Jahren kann man in der Vorgeschichte und im Verlauf der gesellschaftlich-geschichtlichen Ereignisse der Zwischenkriegszeit gleichermaßen wie in den innerfachlichen Konflikten der mit der Deutung, Erklärung und Lösung sozialer Probleme befassten Disziplin zahlreiche Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen Entwicklungen erkennen.

Das Ziel des zweiten Projektteils ist also die Rekonstruktion, Analyse und Diskussion der Soziologie in der Zeit vom Ende des Ersten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs im deutschsprachigen Raum. Dabei wird – beginnend mit den Jahren 1933 in Deutschland und 1938 in Österreich – vor allem auch Werken von Autorinnen und Autoren Aufmerksamkeit geschenkt, die im Anschluss an deren erzwungene Emigration außerhalb des deutschen Sprachraums, wenn auch gelegentlich noch in deutscher Sprache, erschienen sind. Die derzeit zugänglichen Publikationen zum Thema des zweiten Projektteils sind mehrheitlich auf einzelne Autorinnen und Autoren sowie auf einzelne Forschungsrichtungen bezogen und liegen oft schon mehrere Jahrzehnte zurück; auch bilden sie nicht mehr den neuesten Forschungsstand ab. Selbst neuere Werke zur Soziologiegeschichte weisen für den besagten Zeitraum eklatante Lücken auf. Eine wissenschaftshistorische Aufarbeitung soll im Rahmen eines fünfbändigen Buchprojektes mit Hilfe nationaler und internationaler Expertinnen und Experten diese Lücken zu schließen helfen. Die Bände erscheinen im Zeitraum der Jahre 2021 bis 2025 im  Springer Verlag für Sozialwissenschaften (VS). Das Buchprojekt wird von jährlich an der ÖAW stattfindenden Symposien zum Thema begleitet. 

Zusätzlich wird ein mehrbändiger Reader erstellt, in dem theoretische und methodologische Aufsätze sowie solche aus den Gebieten der unterschiedlichen Speziellen Soziologien der Zwischenkriegszeit zugänglich gemacht werden sollen. Die im Rahmen des zweiten Projektteils veröffentlichten Sammelbände und Reader sollen dazu beitragen, infolge des Zweiten Weltkriegs weitgehend vergessene, jedoch für die heutige Soziologie, wie sich zeigt, fruchtbare und systematisch bedeutsame Ansätze neu zu erschließen.

(3) Bestimmend für den erst später zur Bearbeitung in Aussicht genommenen dritten, die Jahre 1939 bis 1945 betreffenden Teil der Projektarbeit der AG Soziologiegeschichte ist insbesondere die aus sogenannten rassischen und aus politischen Gründen erzwungene Migration von Soziologinnen und Soziologen. Auf diesen vor allem in persönlicher Hinsicht für viele in Österreich und Deutschland tätig gewesene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch für die Wissenschaft insgesamt so unheilvollen Tatbestand soll im dritten Projektteil angemessen Bezug genommen werden, wenn es um eine Bestandsaufnahme der Soziologie während des Zweiten Weltkriegs geht.