19.11.2012

Gesellschaftsdiagnosen

Wissensgesellschaft, Risikogesellschaft, Informationsgesellschaft – Gesellschaftsdiagnosen sind beliebt. In seinem neuen, gleichnamigen Buch beschreibt Alexander Bogner verschiedene Formen der Gesellschaftsdiagnose. Er ist sich auch sicher, dass sie uns als Orientierungshilfe erhalten bleiben.

Alexander Bogner ist habilitierter Soziologe und am ITA vor allem für den Arbeitsbereich „Governance kontroverser Technologien" verantwortlich. Er lehrt an österreichischen und deutschen Universitäten zu den Themen Gesellschaftsdiagnosen, Wissenschaftsforschung sowie Methoden empirischer Sozialforschung.

Warum besteht überhaupt Bedarf für Gesellschaftsdiagnosen?

Alexander Bogner: Am Anfang solcher Diagnosen steht ja immer die Frage: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Das heißt, Gesellschaftsdiagnosen versuchen, wie Hegel es formuliert hat, die eigene Zeit in Gedanken zu erfassen. Das ist schon deshalb faszinierend, weil die hochspezialisierte Wissenschaft sich den „großen Wurf“ immer weniger zutraut. Deswegen kommt meist auch der Einwand: Gesellschaftsdiagnosen seien ja viel zu pauschal. Reine Feuilleton-Wissenschaft! Außerdem erscheint alle paar Jahre eine andere Diagnose, die eine „neue“ Gesellschaft ausruft. Das stärkt nicht gerade die Glaubwürdigkeit.

Doch selbst die schärfsten Widersacher gestehen Gesellschaftsdiagnosen zu, dass sie wichtiges Orientierungswissen liefern. Außerdem sensibilisieren sie die Gesellschaft für bislang ungesehene oder vernachlässigte Entwicklungen und Trends. Nehmen wir nur die Risikogesellschaft – das Thema schlug 1986 ein wie eine Bombe. Auch in der Wissenschaft. Plötzlich wurden Risiken und Ungewissheiten zu Wissenschaftsthemen.

Gesellschaftsdiagnosen werden von einigen WissenschaftlerInnen mit großer Skepsis betrachtet. Woher kommt diese Ausgrenzung?

Alexander Bogner: Das ist ein alter Streit. Die “strenge” Wissenschaft sagt: „Gesellschaft“ ist ein unbrauchbarer Begriff, weil er sich nicht operationalisieren lässt. Gesellschaftsdiagnosen sind daher nicht empirisch überprüfbar. Aber das gilt im Übrigen auch für Gesellschaftstheorien, die im Prinzip von allen ernst genommen werden.

Wenn wir in der Wissenschaft nicht zu bloßen Erbsenzählern werden wollen, dann müssen wir uns auch an die großen Fragen heran wagen. Gesellschaftsdiagnosen wird es darum immer geben, weil sie uns helfen, das Hier und Heute zu deuten.

Welche Gesellschaftsdiagnosen sind jetzt gerade aktuell, und wo sehen sie Trends für zukünftige Diagnosen?

Alexander Bogner: Die momentan gängigste Diagnose, die auch am wenigsten bestritten wird, ist die der Wissensgesellschaft. Wann immer PolitikerInnen über den Hochschulzugang und die Akademiker-Quote diskutieren, taucht der Begriff auf. Er ist schon so selbstverständlich geworden, dass die meisten vergessen, dass auch die Wissensgesellschaft eine Gesellschaftsdiagnose ist. Immer noch am Bildschirm ist auch die Informationsgesellschaft.

Als nächste große Trends am Horizont könnte ich mir Mobilität und Entrepreneurship vorstellen. Das Leben in der flexibilisierten, hochmobilen, entsicherten Gesellschaft führt zu Überforderungen, Burn-out oder Depressionen sind die Krankheiten unserer Zeit. Die Ich-AG, der Zwang, als Unternehmer in eigener Sache operieren zu müssen, all die Pseudoselbständigen und Scheinangestellten - das ist der Stoff für eine nächste Gesellschaftsdiagnose.

Links

Bogner, Alexander (2012) Gesellschaftsdiagnosen: Ein Überblick.; Weinheim: Beltz Juventa (204 Seiten). Reinlesen und bestellen

ITA-Kontakt: Alexander Bogner