Können nicht-bewusst wahrgenommene Reize auf einer höheren kognitiven Ebene inhaltlich (z.B. semantisch) erfasst werden oder beschränkt sich die Verarbeitung auf eine periphere automatische Ebene? In dem Artikel wurde diese Frage anhand von visuellem und auditivem musikalischen Material (Dreiklänge in Notenschrift und als gehörter Klang) untersucht. Dazu wurde ein Priming-Paradigma verwendet, eine in der psychologischen Forschung übliche Methode, mit der man unter anderem untersuchen kann, ob ein nicht-bewusst wahrgenommener Reiz die Verarbeitung eines bewusst wahrgenommenen Reizes erleichtert. In unserem Experiment wurden Noten von Dreiklängen so kurz präsentiert, dass nur eine nicht-bewusste (aber keine bewusste) Verarbeitung möglich war. Darauf folgte die Präsentation eines auditiv (bewusst) gehörten Dreiklangs. Sowohl in der visuellen als auch in der auditiven Darbietung konnten das Tongeschlecht (Dur vs. Moll) oder die Stellung (Grundstellung vs. Umkehrung) variieren. Musikerinnen und Musiker sollten entscheiden, ob der gehörte Dreiklang ein Dur- oder Molldreiklang war, wobei die Antwortgeschwindigkeit gemessen wurde. Die Versuchspersonen zeigten unter anderem kürzere Antwortgeschwindigkeiten, wenn sowohl das Tongeschlecht (das aufgaben-relevante Merkmal) als auch die Stellung (das aufgaben-irrelevante Merkmal) in visuellem und auditivem Dreiklang übereinstimmten als wenn nur eines der Merkmale übereinstimmte.
Die Ergebnisse weisen einerseits darauf hin, dass der unbewusst wahrgenommene visuelle Input einen Einfluss auf den bewusst wahrgenommenen auditiven Input hatte und beide Wahrnehmungsinhalte trotz der unterschiedlichen Wahrnehmungsmodalitäten (visuell und auditiv) integriert wurden. Andererseits konnte erstmals durch die Interaktion der aufgaben-relevanten und aufgaben-irrelevanten Merkmale bei der Verarbeitung der Reize gezeigt werden, dass auch nicht-bewusst wahrgenommene Reizmerkmale semantisch (also auf einer höheren kognitiven Ebene) verarbeitet wurden. Eine bewusste Wahrnehmung war also nicht notwendig, um die Bedeutung des Merkmals zu erfassen.
Augsten, Marie-Luise; Eder, Stephanie. J.; Büsel, Christian; Valuch, Christian; Ansorge, Ulrich (2023): ”Influences of Music Reading on Auditory Chord Discrimination: A Novel Test Bed for Nonconscious Processing of Irrelevant Prime Meaning” in: Open Psychology, Bd. 5/1: 20220132, S. 1-15, https://doi.org/10.1515/psych-2022-0132