13.06.2023

Gletscherschwund: Auswirkungen reichen bis ins Tal

Felsstürze wie zuletzt am Fluchthorn in Tirol zeigen: Durch den Rückgang der Gletscher ändert sich die Hochgebirgslandschaft in Österreich dramatisch. Das hat auch Auswirkungen auf die Menschen in der Region und die touristische Nutzung der Alpen, erklärt Glaziologe Kay Helfricht im Interview.

Blick auf das Fluchthorn in Tirol. Rechts ist der Hauptgipfel zu sehen, der am 11. Juni 2023 in einem Felssturz abgebrochen ist. © Wikimedia/Creative Commons

„Es gibt Übergänge in den Alpen, wo der Gletscherschwund jetzt schon dazu führt, dass sie deutlich schwerer passierbar sind. Dort gibt das Eis auch in den höchsten Zonen der Gletscher mitunter mehrere Meter hohe Felswände frei“, sagt Kay Helfricht, Glaziologe an der Universität Innsbruck und ergänzt: „Das zurückbleibende Gelände ist zudem oft instabil und es kommt gerade da vermehrt zu Steinschlag und Felsstürzen.“

Das macht deutlich: Mit den schwindenden Gletschern verändert sich nicht nur die Landschaft in den Alpen. Auch Wirtschaft und Tourismus sind davon betroffen. Bei einer Elisabeth Lichtenberger Lecture an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat Helfricht die Dynamik von Naturprozessen und deren Auswirkungen auf die menschliche Nutzung alpiner Räume vor Kurzem erläutert. Im Gespräch erklärt er, wie die Situation an den Gletschern sich in den vergangenen Jahren verändert hat und was in Zukunft zu erwarten ist.

DAS EWIGE EIS SCHMILTZ

Wie geht es den Gletschern in Österreich?

Kay Helfricht: Vor etwa 170 Jahren, in der sogenannten kleinen Eiszeit um 1850, haben die Gletscher in Österreich die größte Ausdehnung der jüngeren Vergangenheit erreicht. Seither hat die Masse um etwa zwei Drittel abgenommen, mit lediglich einer kurzen Pause in den 1980ern. Seit dem Hitzesommer 2003 haben sich die Verlustraten an den Gletschern nochmals beschleunigt. Allein im Zeitraum zwischen 2006 und 2016 ging ein weiteres Viertel des Volumens verloren. Im Schnitt schwinden die Gletscher um zwei bis drei Prozent pro Jahr, 2022 waren es aber sogar 6 bis 7 Prozent. Das ist ein deutlicher Fingerzeig, dass wir bei eine Häufung ähnlicher Jahre mit einer gänzlich anderen Situation konfrontiert sein werden.

Bis 2050 werden etwa 60 Prozent des jetzt noch vorhandenen Gletschervolumens in Österreich verschwunden sein.

Welche Entwicklung ist unter realistischen Annahmen zu erwarten?

Helfricht: Mit fortschreitender Erwärmung vor allem in den Sommermonaten werden bis 2050 etwa 60 Prozent des jetzt noch vorhandenen Gletschervolumens in Österreich verschwunden sein. Es gibt natürlich unterschiedliche Modelle und Szenarien, aber bei den Auswirkungen bis 2050 sind sie sich grundlegend ziemlich einig. Abweichende Prognosen gibt es für die Zeit danach. Für die Entwicklung ab 2050 wird es sehr entscheidend sein, welchen Klimapfad wir jetzt wählen. Bis Ende des Jahrhunderts werden die Gletscher nahezu verschwunden sein, es werden nur noch maximal 20 Prozent des Eises, vorwiegend der derzeit größten Gletscher, existieren. 

BRÖCKELNDE BERGE

Was passiert mit dem Gelände, wenn das Eis verschwindet?

Helfricht: Durch den Rückgang der Gletscher werden große Flächen frei, die mit lockerem Geröll und Schutt bedeckt sind. Wenn es zu extremen Niederschlagsereignissen kommt, kann das Wasser dieses Material mitnehmen und als Sedimentfracht talauswärts befördern. Für diese Prozesse sind neben der Topografie auch sich ändernde Niederschlagsmuster entscheidend. Wir beobachten auch, dass sich die Vertiefungen im Gletscheruntergund, die zum Teil noch aus der vergangenen großen Eiszeit stammen, durch das Abschmelzen der Gletscher mit Wasser füllen. Die auch nahe von Felswänden entstehenden Gletscherseen liegen je nach Gelände im potentiellen Auslaufgebiet von Felsstürzen oder Hangrutschungen.

Es besteht also die Gefahr, dass die Gletscherseen Überflutungen verursachen?

Helfricht: Nicht jeder Gletschersee ist eine Gefahr, aber grundsätzlich reichen die Volumen einiger solcher Seen aus, um Überflutungen zu verursachen. Da gilt es zu bewerten wo es derart exponierte Orte gibt, die im Einflussbereich von Hangrutschungen und potentiellen Felsstürzen liegen. Durch Extremereignisse wie Starkregen kann es auch zum Überspülen und damit zu plötzlichen Fluten kommen, die zumindest für existierende Infrastruktur in der Nähe der Gletscherseen gefährdend sein können. 

Begleiterscheinung derartiger Massenbewegungen wie am Fluchthorn sind vor allem Muren, die beträchtliche Fließwege erreichen können.

Müssen wir mit Ereignissen wie dem jüngsten Felssturz in Tirol in Zukunft häufiger rechnen?

Helfricht: Bergstürze wie jener am Fluchthorn im Jamtal zeigen deutlich, dass neben dem Verlust des Eises zu Füßen der Berggipfel auch der Rückgang des Permafrostes in den Felswänden zu Ereignissen führen kann, die das Potential haben, die Auswirkungen der ursprünglichen Prozesse im Hochgebirge bis in den Siedlungsraum der Talschaften zu transportieren. Begleiterscheinung derartiger Massenbewegungen sind vor allem Muren, die aufgrund des Schmelzens des Eises während des Felssturzes des Ausräumens von Gletscherseen und des im Geröll gespeicherten Wassers entstehen und durchaus beträchtliche Fließwege erreichen können. Trifft solch ein Bergsturz auf noch bestehende Gletscherflächen, sind Szenarien wie in Bondo als Folge des Bergsturzes am Piz Cengalo 2017 auch für Österreich denkbar.

HÖHERES RISIKO IN DEN ALPEN

Wie wirkt sich all das auf die Nutzung der Alpen als Naherholungsgebiete aus?

Helfricht: Es gibt Übergänge in den Alpen, wo der Gletscherschwund jetzt schon dazu führt, dass sie deutlich schwerer passierbar sind. Dort gibt das Eis auch in den höchsten Zonen der Gletscher mitunter mehrere Meter hohe Felswände frei. Das zurückbleibende Gelände ist zudem oft instabil und es kommt gerade da vermehrt zu Steinschlag und Felsstürzen. Für Eisstürze wie am Marmolatagletscher 2022 müssen aber schon einige Faktoren zusammenspielen. Neben der Lage des Eises ist es auch die sich ändernde Witterung, die in extremen Jahren zu kritischen Zuständen führen kann. Zuletzt erhöht sich durch die steigende Zahl der Sportler:innen in den Bergen natürlich auch das Risiko, dass Menschen zu Schaden kommen.

Für die Aufrechterhaltung des Skibetriebs müssen Teile der Gletscher zur Vermeidung von Schmelze im Sommer abgedeckt werden.

Als Forscher versuchen wir, die relevanten Prozesse zu verstehen, um eine fundierte Risikoabschätzung zu ermöglichen. Hier spielt zum Beispiel das Forschungsprogramm Earth System Sciences (ESS), ein von der ÖAW durchgeführtes Projekt des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung, in der Erforschung verschiedener Aspekte des Systems Erde eine wichtige Rolle. Die fehlenden Gletscher werden bald auch das bekannte Landschaftsbild ändern. Die gleißenden Gipfel im Sommer wird es so in naher Zukunft nicht mehr geben. 

Wie ist der Skitourismus in Österreich betroffen?

Helfricht: Die Gletscherskigebiete im Land wurden vor allem in den 70er und 80er Jahren eröffnet, um das Skifahren im Sommer zu ermöglichen. Diese Funktion können sie heute ohne technische Maßnahmen nicht mehr erfüllen, da im Sommer nicht mehr genug Schnee auf den Eisflächen liegt. Heute verlängern die Gletscher die eigentliche Winterskiaison, indem teilweise unter Einsatz von Beschneiung schon Anfang Oktober mit dem Skibetrieb gestartet wird. Die Skigebiete werden das sehr wahrscheinlich so auch weiterhin betreiben. Für Aufrechterhaltung des Betriebs müssen dabei Teile der Gletscher zur Vermeidung von Schmelze im Sommer abgedeckt werden. Der Skibetrieb kann in Zukunft in diesen Höhenlagen grundsätzlich auch ohne Gletscher weitergehen, solange die Nachfrage da ist, weil auch in Zukunft im Gegensatz zu niedriger gelegenen Skigebieten zeitiger beschneit werden kann.

 

AUF EINEN BLICK

Der Glaziologe und Umweltforscher Kay Helfricht forscht seit Jahren zu den österreichischen Gletschern. Er leitete bzw. war Partner bei drei Earth-System-Sciences Projekten der ÖAW. Für die Modellierung der Eisvolumina Österreichs unter Berücksichtigung einer Vielzahl verfügbarer Eisdickenmessungen erhielt er 2019 den Best Publication Award der ÖAW. Aktuell ist Helfricht Senior Researcher an der Universität Innsbruck.