Fr, 03. März 2023 | Kategorie Blog

Neutralität aus der Mode?

Das erste gemeinsame Seminar der Schweizerischen und Österreichischen Studienstiftung "Neutralität und Gute Dienste" hätte nicht aktueller sein können: Neutralität steht mit dem russichen Angriffskrieg zunehmend im Fokus öffentlicher Debatten. In Genf und Wien wurde intensiv diskutiert, Besuche beim IKRK und bei der OSZE inklusive.

Text: Michael Weilch | Fotos: Angela Balder

Neutralität aus der Mode?

Der russische Angriffskrieg hat Europas Sicherheitsarchitektur infrage gestellt – und damit auch die Neutralität der Schweiz und Österreichs. Daher wurde beim ersten gemeinsamen Seminar der Studienstiftungen beider Länder über Sinn und Unsinn, Geschichte und Zukunft der Neutralität gesprochen.

Das Konzept der Neutralität ist aufgrund der jüngsten Ereignisse in aller Munde, fundierte und differenzierte Diskussionen darüber sind aber dennoch rar. Gerade deshalb erschien es sinnvoll, aus der Perspektive zweier unterschiedlicher Länder einmal ein wenig herauszuzoomen. Die ersten Tage verbrachten wir, das heißt zehn Geförderte aus der Schweiz und zehn aus Österreich, dafür in Genf, dem vielleicht bekanntesten Ort der Vermittlung und der Guten Dienste in Europa. Dort widmeten wir uns nicht nur (aber auch!) dem Raclette-Schmausen in einer mittelalterlichen Rüstkammer, sondern vor allem inhaltlichen Fragen.

Woher kommt die Neutralität eigentlich?

Und welche Funktionen erfüllt sie? Während sie sich in der Schweiz auf eine jahrhundertelange Geschichte stützen kann, ist sie in Österreich eng mit dem Abzug der sowjetischen Truppen und dem Staatsvertrag von 1955 verknüpft. Aber die Gründe für und gegen die Neutralität, die Vor- und Nachteile einer neutralen Position wandeln sich stets im Laufe der Zeit. Dabei gilt es unbedingt zwischen rechtlicher und politischer Neutralität zu unterscheiden, auch Begriffsschlachten in puncto integraler, differenzieller, wertebasierte und aktiver Neutralität wurden geschlagen (die Schweizer Neutralität liebt Adjektive…).

Nachdem wir in Genf unser Wissen bei Besuchen und Vorträgen des Geneva Centre for Security Policy und auch bei Institutionen wie Interpeace auf Vordermann bringen konnten, ging es dann mit dem Nachtzug nach Wien. Dort angekommen, durften wir eine OSZE-Sitzung live miterleben und damit bei internationaler Diplomatie (wortwörtlich) in der ersten Reihe sitzen. Es folgten Gespräche mit verschiedenen OSZE-Botschafter:innen und dem bekannten österreichischen Diplomaten Emil Brix, derzeit Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien.

Zum Abschluss gab es noch eine Verhandlungssimulation; aus 20 Geförderten wurden 20 hartgesottene Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die jeweils unterschiedliche europäische Parteien und Fraktionen vertraten. Nach teils zähen, teils emotionalen Verhandlungen konnten wir mit einer knappen Mehrheit von 11 zu 9 Stimmen eine Empfehlung an die Kommission und den Rat bzgl. des weiteren strategischen Vorgehens und der Positionierung gegenüber den USA und China beschließen. Ob das (echte) Europäische Parlament schon bald unserem Vorbild folgen wird? Wir werden es gespannt beobachten…

Was uns aber auf jeden Fall bleibt, sind tolle Erfahrungen und Bekanntschaften aus diesem Seminar und eine gänzlich neue Sichtweise auf die Neutralität. Es ist daher vielleicht gar nicht überraschend, dass 16 von 20 Teilnehmenden am Ende des Seminars in einer Abstimmung das derzeit praktizierte Modell der Neutralität für nicht mehr zeitgemäß hielten.

Wir hoffen zudem, dass dieses Seminar nur das erste einer langen Reihe von österreichisch-schweizerischen Seminar-Koproduktionen bildet! Je mehr Perspektiven, desto besser! Und desto mehr Freude an Raclette und Schnitzel…

Michael Weilch   studiert Wirtschaftsrecht und Politikwissenschaft in Wien und ist seit dem 1. Jahrgang 2019/20 Geförderter der Österreichischen Studienstiftung.

Hier  geht es zum Partner-Blog der Schweizerischen Studienstiftung von   Lars Rohr