Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (1914–1918) unterzeichneten die Siegermächte (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien u.a.) in den Pariser Vororten Versailles, St. Germain-en-Laye, Trianon, Neuilly und Sèvres Verträge mit Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei, mit denen der Kriegszustand auch rechtlich beendet werden sollte. Die Unterzeichnung des Vertrages mit Österreich erfolgte am 10. 9. 1919 im Pariser Vorort St. Germain-en-Laye.

Der Staatsvertrag von St. Germain (StVStG) besteht aus 381 Artikeln sowie mehreren Anhängen. Er regelt nicht nur Materien, wie sie typischerweise in einem Friedensvertrag vorkommen (Grenzziehung, Reparationsleistungen, Rüstungsbeschränkungen usw.), sondern trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die Österreichisch-Ungarische Monarchie zerfallen war, was z.B. Regelungen über die Staatsbürgerschaft der ehemaligen Staatsbürger der k.u.k. Monarchie notwendig machte. Schließlich enthält der Vertrag auch Materien, die mit dem Krieg in keinem oder nur losen Zusammenhang stehen, wie etwa die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), vor allem aber die Satzung des Völkerbundes, einer internationalen Organisation, die als Vorläuferin der UNO gilt.

Einzelne Teile des Vertrages, wie insbesondere die (im Wesentlichen bis heute aufrechten) Bestimmungen über die Grenzen Österreichs, standen stets im Interesse der Öffentlichkeit wie auch der Wissenschaft. Andere Teile dagegen wurden, trotz ihrer teilweise hohen praktischen Bedeutung, bislang nur ungenügend beachtet. Eine gesamtheitliche, juristisch stringente Analyse des gesamten Vertrages hat bis zum heutigen Tag nicht stattgefunden.

Das gegenständliche Projekt will dieses Defizit beheben. Angestrebt wird eine Kommentierung des StVStG mit juristischen Methoden, bei der alle zentralen juristischen bzw. rechtshistorischen Themen des Vertrages aufgearbeitet werden. Gegenstand des Projekts ist also nicht die – bereits in vielerlei Hinsicht aufgearbeitete – Entstehungsgeschichte des Vertrages, als vielmehr seine rechtliche Bedeutung, die sich etwa in der Judikatur der österreichischen Gerichte, aber auch in der Tätigkeit besonderer Schiedsgerichte und sonstiger Organe, die auf Grund oder in Folge des StVStG eingerichtet wurden, widerspiegelt. Besonderes Augenmerk soll auf die noch heute geltenden und praktisch relevanten Bestimmungen (wie etwa die in Verfassungsrang stehenden Bestimmungen zugunsten religiöser und ethnischer Minderheiten) gelegt werden. Die Frage, ob eine Bestimmung überhaupt noch in Geltung steht, ist sowohl aus völkerrechtlicher Perspektive als auch aus innerstaatlicher Perspektive zu beantworten.

Die systematische Aufarbeitung wendet sich daher nicht nur an rechtshistorisch interessierte Jurist_innen und Historiker_innen, sondern soll auch Studierenden und Lehrenden der Rechts- und Geisteswissenschaften sowie „Praktiker_innen“ wie Rechtsanwält_innen oder Lehrer_innen dienen. Der Kommentar soll möglichst zum 100-Jahr-Jubiläum im Herbst 2019 erscheinen. Parallel dazu ist eine Tagung geplant, welche im November 2018 stattfinden soll.