GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Karl Przibram, kMI 1946, wM 1950


geb. am 21. Dezember 1878 in Wien, gest. am 10. August 1973 in Wien

Karl Gabriel Przibram war von 1912 bis 1938 mit Unterbrechungen Mitarbeiter am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien. Nach dem „Anschluss“ wurde er aus rassistischen Gründen verfolgt und konnte seine Tätigkeit an der Akademie nicht mehr fortsetzen. Przibram emigrierte im Jahr 1940 nach Belgien und kehrte 1946 nach Österreich zurück.

Przibram wurde als Sohn des Großindustriellen Gustav Przibram (1844–1904) und seiner Frau Charlotte, geb. Freifrau Schey von Koromla, in Wien geboren. Er war Neffe des Chemikers Adolf von Lieben (1836–1914) und Bruder von Hans Przibram, dem Zoologen und Mitbegründer der Biologischen Versuchsanstalt (BVA) der Akademie der Wissenschaften. Przibram nahm 1897 die Studien Physik, Chemie und Mathematik an der Universität Wien auf und wechselte 1899 an die Karl Franzens-Universität Graz. Dort promovierte er im Jahr 1901 mit seiner Dissertation über „Photographische Studien über die elektrische Entladung in Gasen“. 1905 habilitierte sich der Physiker an der Universität Wien und lehrte anschließend als Privatdozent und tit. ao. Professor.

1927 erhielt Przibram die Stelle eines ao. Professors für Physik an der Universität Wien. Am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften war Karl Przibram von 1912 bis 1915 tätig. Nach einer Unterbrechung während des Krieges – er versah unter anderem Röntgendienst in verschiedenen Militärkrankenhäusern – übernahm Przibram 1920 die Stelle als Assistent des Vorstandes des Instituts für Radiumforschung, Stefan Meyer, wo er dem späteren Nobelpreisträger Victor Franz Hess nachfolgte. Hier führte er physikalisch-kristallographische Untersuchungen durch, etwa über Verfärbung und Luminiszenz bei Mineralien bzw. deren Veränderung durch Becquerelstrahlen. Hervorzuheben ist seine Entdeckung der Radiophotolumineszenz im Jahr 1921, die Veränderung von Stoffen durch radioaktive Bestrahlung. In seiner Forschungsgruppe, die unter anderem zur Radiothermolumineszenz arbeitete, waren auch Herbert Eduard Haberlandt (1904–1970), Berta Karlik (1904–1990), Elisabeth Kara-Michailova (1897–1968), Elizabeth Róna und Franz Urbach tätig.

Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde Karl Przibram durch Erlass des Bundesministeriums für Unterricht vom 22. April 1938 an der Universität Wien entlassen und 1939 zwangspensioniert. Am Institut für Radiumforschung konnte Przibram als „Gast“ bis Jänner 1939 forschen, danach wurde ihm der Zutritt verboten. Im Frühjahr 1940 emigrierte Przibram mit seiner zweiten Ehefrau Elisabeth Tognarelli (1887–1970) nach Brüssel (Belgien). Dank der Beziehungen zwischen dem Institut für Radiumforschung und der Union Minère du Haut Katanga konnte er für diese Uranbergbaugesellschaft Fachliteraturberichte erstellen und damit seinen Lebensunterhalt sichern. Durch die deutsche Besetzung Belgiens im Mai 1940 war die geplante Weiterreise zu seinen beiden Kindern Heinrich (geb. 1918) und Erika Renate (geb. 1926, verh. Wallis) nach England nicht mehr möglich. Karl Przibram überlebte als „U-Boot“ in Brüssel. Er war Mitglied der „Österreichischen Freiheitsfront – Front National Autrichien“ und Präsident des Exekutivkomitees.

Im Jänner 1946 richtete Przibram ein Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, in dem er seine Bereitschaft erklärte, an die Universität Wien zurückzukehren und einen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten. Am 1. Juni des selben Jahres trat er die Stelle eines ao. Professors an der Universität Wien an und wurde dem Institut für Radiumforschung dienstzugeteilt. Im März 1947 wurde der Physiker zum Ordinarius berufen und leitete bis zu seiner Emeritierung im September 1950 (bzw. interimistisch bis Juni 1951) das II. Physikalische Institut. 1950 wurde Przibram zum Vorsitzenden des Kuratoriums des Instituts für Radiumforschung der ÖAW (1955 in Institut für Radiumforschung und Kernphysik umbenannt) berufen, wo er seine Forschungstätigkeit bis in sein 85. Lebensjahr fortsetzte.

Karl Przibram gilt als einer der Pioniere der radioaktiven Festkörperphysik. Er war einer der wenigen Naturwissenschaftler, die nach 1945 nach Österreich zurückkehrten. Im Jahr 1946 wurde er von der Akademie der Wissenschaften in Wien zum korrespondierenden Mitglied im Inland (kMI) gewählt, 1950 zum wirklichen Mitglied (wM). Karl Przibrams frühe Arbeiten wurden bereits 1914 durch die Verleihung des Haitinger-Preises ausgezeichnet. 1929 erhielt er den Ignaz-L.-Lieben-Preis der Akademie der Wissenschaften. 1955 wurde ihm der Preis der Stadt Wien für Naturwissenschaften, 1959 die Ehrenmedaille der Stadt Wien in Gold und 1963 der Erwin-Schrödinger-Preis, die höchste Auszeichnung der Akademie in den Naturwissenschaften, verliehen.


Schriften (Auswahl)


  • Karl Przibram, Photographische Studien über die elektrische Entladung in Gasen, Dissertation, Universität Graz 1901.
  • Ders., Verfärbung und Lumineszenz durch Becquerelstrahlen, in: Zeitschrift für Physik 20 (1923), 196–208.
  • Ders., Verfärbung und Lumineszenz durch Becquerelstrahlen III, in: Zeitschrift für Physik 68 (1931), 403–422.
  • Ders., Über die Rekristallisation des Steinsalzes, in: Zeitschrift für Physik 67 (1931), 89–105.
  • Ders., Radioaktivität, Berlin 1932.
  • Ders., Ionen in Gasen, in: Handbuch der Physik, Bd. 22, Berlin 1933, 343–423.
  • Ders., Verfärbung und Lumineszenz durch Becquerelstrahlen V nebst verwandten Erscheinungen, in: Zeitschrift für Physik 130 (1951), 269–292.
  • Ders., Verfärbung und Lumineszenz. Beiträge zur Mineralphysik, Wien 1953.
  • Ders., Irradiation colours and luminescence. A contribution to mineral physics (= Pergamon Science Series: Physics 1), London 1956.
  • Ders. (Hg.), Letters on Wave Mechanics: Schrödinger, Planck, Einstein, Lorentz. K. Przibram. Translated from the German with an Introduction by Martin J. Klein, New York 1967.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Bestand Institut für Radiumforschung (enthält Nachlass Karl Przibram).
    • Archiv der Universität Wien, Senat S. 304, Sign./inv. 1008, Phil. Fak. 567 aus 1945/46 Physikalische Lehrkanzeln.
    • Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, University of Oxford (File 337/2).
    • Wienbibliothek im Rathaus, Tagblattarchiv, Karl Przibram, 1931/59.
    • Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach f. d. J. 1913–1915, 1921–1938, 1946–1950, 1974 (Nachruf).
    • Daniela Angetter – Michael Martischnig, Biografien österreichischer PhysikerInnen. Eine Auswahl, Wien 2005, 113–114.
    • Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss, Bd. 2: The Arts, Sciences, and Literature, München [u.a.] 1983, 930–931.
    • Silke Fengler – Carola Sachse, Kernforschung in Österreich. Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900–1978 (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 1), Wien–Köln–Weimar 2012, 28, 58–60, 76, 90, 103, 107, 113, 220, 241, 248–250, 261, 264–265, 300, 306–307.
    • Silke Fengler, Kerne, Kooperationen und Konkurrenz. Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950) (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 3), Wien–Köln–Weimar 2014, 25, 46, 97, 125, 153, 155, 238, 247, 276, 331.
    • Berta Karlik, Karl Przibram, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Almanach f. d. J. 1974, 124. Jg., Wien 1975, 379–387.
    • Ernst Walter Kellermann, A Physicist’s Labour in War and Peace. Memoirs 1933–1999, [o.O.] 2004, 26–29, 33.
    • Wolfgang L. Reiter, Das Jahr 1938 und seine Folgen für die Naturwissenschaften an Österreichs Universitäten, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft (= Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), Münster 22004, 664–680, hier: 667.
    • Wolfgang L. Reiter, Hans Thirring und Engelbert Broda. Naturwissenschaftler zwischen Nationalsozialismus und Kaltem Krieg, in: Mitchell Ash – Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen 2015, 329–339, hier: 337.
    • Wolfgang L. Reiter, Naturwissenschaften und Remigration, in: Sandra Wiesinger-Stock – Erika Weinzierl – Konstantin Kaiser (Hg.), Vom Weggehen. Zum Exil von Kunst und Wissenschaft (= Exilforschung heute, Buchreihe der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung 1), [Wien] 2006, 177–218, hier: 185–188, 190, 205–206, 210.
    • Wolfgang L. Reiter, Österreichische Wissenschaftsemigration am Beispiel des Instituts für Radiumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft (= Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), Münster 22004, 709–729, hier: 715–718.
    • Wolfgang L. Reiter, Von Erdberg in die Boltzmanngasse – 100 Jahre Physik an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl – Gerd B. Müller – Thomas Olechowski – Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, 191–209, hier: 198, 200, 201, 205,
    • Maria Rentetzi, Trafficking Materials and Gendered Experimental Practices. Radium Research in Early 20th Century Vienna, New York 2008.
    • Christiane Rothländer, Karl Motesiczky 1904–1943. Eine biografische Rekonstruktion, Wien–Berlin 2010, 312.
    • Reinhard W. Schlögl, Karl Przibram 1878–1973. Entdecker der „Radiophotolumineszenz“, in: Rudolf Werner Soukup (Hg.), Die wissenschaftliche Welt von gestern. Die Preisträger des Ignaz-L.-Lieben-Preises 1865–1937 und des Richard-Lieben-Preises 1912–1928. Ein Kapitel österreichischer Wissenschaftsgeschichte in Kurzbiografien (= Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 4), Wien–Köln–Weimar 2004, 263–266.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 48, 216, 231, 233, 251, 256.


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