GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Victor Franz Hess, kMI 1933, kMA 1938


geb. am 24. Juni 1883 in Deutsch-Feistritz, gest. am 17. Dezember 1964 in Mount Vernon (NY, USA)

Victor (Viktor) Franz Hess wurde 1933 zum korrespondierenden Mitglied im Inland (kMI) der Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt. Nach dem „Anschluss“ wurde er aus politischen Gründen verfolgt und 1940 aus der Akademie ausgeschlossen. Der Physiker emigrierte 1938/39 in die USA. 1945 wurde seine Akademiemitgliedschaft reaktiviert.

Hess wurde als Sohn des Forstmeisters Vinzens Hess und seiner Frau Serafine, geb. Grossbauer-Waldstätt, auf Schloss Waldstein bei Deutsch-Feistritz nahe Graz, geboren. 1901 nahm er das Studium der Physik an der Philosophischen Fakultät der Karl Franzens-Universität in Graz auf und promovierte mit seiner Dissertation zur „Brechung eines Lichtstrahls durch Flüssigkeitsgemische unter Berücksichtigung der beim Mischen eintretenden Volumsänderung“ im Jahr 1906. Von 1906 bis 1910 war er am II. Physikalischen Institut der Universität Wien unter Franz Exner (1849–1926) tätig, wo er sich im Jahr 1910 habilitierte. Von 1908 bis 1920 lehrte Hess als Honorardozent für Physik an der Tierärztlichen Hochschule in Wien. In seinen Forschungen beschäftigte er sich vorrangig mit Radioaktivität und Luftelektrizität. 1910 erhielt er die erste Assistentenstelle am neugegründeten Institut für Radiumforschung unter Stefan Meyer an der Akademie der Wissenschaften. Während dieser Zeit, die Hess in seiner autobiographischen Darstellung als die „schönste und glücklichste“ Zeit seines Lebens bezeichnete, machte er im Jahr 1912 die Entdeckung der kosmischen Strahlung, wofür er 1936 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde.

1910 erhielt er den Titel eines ao. Professors an der Universität Wien. 1920 wurde der Physiker als ao. Professor an die Universität Graz berufen. Am Radiuminstitut folgte auf seine Stelle Karl Przibram. 1921 wurde Hess als einer der ersten Ausländer nach dem Ersten Weltkrieg als Chefchemiker der US Radium Corporation nach Orange (N.J) berufen, wo er das Forschungslaboratorium einrichtete. Durch Vermittlung des Washingtoner physikalischen Chemikers S. C. Lund wurde er zum “Consulting Physicist” im US Bureau of Mines des Innenministeriums in Washington ernannt (was eine für einen Ausländer seltene Ehrung darstellte). 1923 kehrte Hess an die Universität Graz zurück, wo er 1925 zum o. Professor ernannt wurde. Im Jahr 1931 wurde er als Professor für Experimentalphysik an die Universität Innsbruck berufen, um als Vorstand das neugegründete Institut für Strahlenforschung aufzubauen.

Im selben Jahr konnte Hess mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Wien, der Rockefeller Foundation und anderer Institutionen eine Forschungsstation auf dem Hafelekar bei Innsbruck zur ständigen Beobachtung der kosmischen Ultrastrahlung einrichten. 1937 folgte er dem Ruf als Vorstand des Physikalischen Instituts an die Universität Graz (als Nachfolger Hans Benndorfs, 1870–1953). Von der Akademie der Wissenschaften in Wien wurde Victor Franz Hess im Jahr 1933 zum korrespondierenden Mitglied im Inland (kMI) gewählt, 1938 umgewidmet als korrespondierendes Mitglied im Ausland (kMA).

Nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland wurde Hess, der unter dem Dollfuß/Schuschnigg-Regime Mitglied des Bundeskulturrates gewesen war, aus politischen Gründen vorübergehend inhaftiert, an der Universität Graz in den Ruhestand versetzt und Mitte September 1938 fristlos und ohne Pension entlassen. Hess wurde gezwungen seine in Schweden investierte Nobelpreisdotation einzuberufen und gegen deutsche Reichsschatzscheine umzutauschen. Zu gleicher Zeit erhielt er eine Berufung als Professor für Physik an das Department of Physics der Fordham University in New York. Victor Hess emigrierte gemeinsam mit seiner Frau Maria Bertha (gest. 1955), die jüdischer Herkunft war, und trat seine Professur im November 1938 an. Neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit arbeitete er als Konsulent der U.S. Radium Corporation. Hess wurde im Jahr 1944 eingebürgert. 1948 kehrte Hess für ein Gastsemester an die Universität Innsbruck zurück und entschloss sich in den USA zu bleiben. Er emeritierte im Jahr 1956. Victor Franz Hess verstarb 1964 in Mt. Vernon bei New York.

Im Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 3. Oktober 1940 wurde der Akademie der Wissenschaften mitgeteilt, dass Victor Franz Hess und weitere sechs namentlich genannte Mitglieder – Walther Brecht, Franz Boas, Karl Bühler, Alfred Hettner, Hermann Mark, Erwin Schrödinger – auszuscheiden seien. Nachdem die Akademie der Wissenschaften in Wien in ihrer ersten Sitzung nach Kriegsende am 18. Mai 1945 die „Rückberufung der wirklichen und korrespondierenden Mitglieder, die im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen des Jahres 1938 ausgetreten sind“, beschlossen hatte, kehrte Hess wieder als korrespondierendes Mitglied im Ausland (kMA) in die Akademie zurück.

Der Nobelpreisträger Victor Franz Hess war Mitglied zahlreicher Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften, unter anderem Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, Fellow der American Physical Society und Mitglied der Carnegie Institution. Im Jahr 1919 wurde er mit dem Ignaz-L.-Lieben-Preis der Akademie der Wissenschaften und 1932 mit dem Ernst Abbe-Gedächtnispreis der Carl Zeiss-Stiftung in Jena ausgezeichnet. Er war Ehrendoktor der Universität Innsbruck, der Tierärztlichen Hochschule in Wien, der Fordham University in New York und der Loyola University in Chicago. Im Jahr 1959 wurde ihm das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst verliehen. Die Österreichische Physikalische Gesellschaft vergibt den Victor Hess-Preis für hervorragende Dissertationen. 2008 wurde das ÖAW-Forschungszentrum Graz in Graz-Messendorf in Victor Franz Hess-Forschungszentrum Graz umbenannt.


Schriften (Auswahl)


  • Victor Franz Hess, Brechung eines Lichtstrahls durch Flüssigkeitsgemische unter Berücksichtigung der beim Mischen eintretenden Volumsänderung, Dissertation, Karl Franzens-Universität Graz 1906.
  • Ders., Über Neuerungen und Erfahrungen an den Radiummessungen nach der [gamma]-Strahlenmethode, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Abteilung der 85. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Wien am 23. September 1913, Braunschweig 1913, 1002–1016.
  • Ders., Die elektrische Leitfähigkeit der Atmosphäre und ihre Ursachen, Braunschweig 1926.
  • Ders. – Oskar Mathias, Neue Registrierungen der kosmischen Ultrastrahlung auf dem Sonnblick (3100 m), in: Physikalische Zeitschrift 30 (1929), 766–767.
  • Ders. – Adolf Demmelmair, Rudolf Steinmaurer, Über Beziehungen zwischen erdmagnetischer Feldstärke und der kosmischen Strahlung, in: Mitteilungen aus dem Physikalischen Institut der Universität, Graz, N. F. 4 (1938), 90–100.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Personalakt.
    • Archiv der ÖAW, Protokoll der Gesamtsitzung am 25. Oktober 1940 (A957).
    • Archiv der ÖAW, Protokoll der Gesamtsitzung am 18. Mai 1945 (A994).
    • Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, University of Oxford (File 330/4).
    • Rudolf Steinmaurer, k.M. Victor Franz Hess, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Almanach f. d. J. 1966, 116. Jg., Wien 1967, 317–328.
    • Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss, Bd. 2: The Arts, Sciences, and Literature, München [u.a.] 1983, 504.
    • Silke Fengler – Carola Sachse, Kernforschung in Österreich. Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900–1978 (=Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 1), Wien–Köln–Weimar 2012, 341–365.
    • Silke Fengler, Kerne, Kooperationen und Konkurrenz. Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950) (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 3), Wien–Köln–Weimar 2014, 217–222.
    • Otto Hahn, In Memoriam Stefan Meyer, in: Zeitschrift für Naturforschung 5,7 (1950), 407.
      Herbert Matis, Ausschluss von Mitgliedern, in: Johannes Feichtinger – Herbert Matis – Stefan Sienell – Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, 55–62.
    • Martina Pesditschek, Viktor Franz Hess, in: Gerhard Heindl (Hg.), Wissenschaft und Forschung in Österreich. Exemplarische Leistungen österreichischer Naturforscher, Techniker und Mediziner, Frankfurt am Main 2000, 105–124.
    • Wolfgang L. Reiter, Österreichische Wissenschaftsemigration am Beispiel des Instituts für Radiumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft (= Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), Münster 22004, 709–729.
    • Wolfgang L. Reiter, Von Erdberg in die Boltzmanngasse – 100 Jahre Physik an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl – Gerd B. Müller – Thomas Olechowski – Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, 191–209, hier: 194, 195, 197.
    • Rudolf Werner Soukup, Victor Franz Hess 1883–1964. Entdecker der kosmischen Strahlung, in: Ders. (Hg.), Die wissenschaftliche Welt von gestern. Die Preisträger des Ignaz-L.-Lieben-Preises 1865–1937 und des Richard-Lieben-Preises 1912–1928. Ein Kapitel österreichischer Wissenschaftsgeschichte in Kurzbiografien (= Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 4), Wien–Köln–Weimar 2004, 205–208.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 250, 256, 257.


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