GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Heinrich Kun


geb. am 21. März 1906 in Wien, gest. im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, Todesdatum unbekannt

Heinrich Rudolf Kun war von 1925/26 bis 1938 an der Biologischen Versuchsanstalt (BVA) der Akademie der Wissenschaften in Wien tätig. Nach dem „Anschluss“ wurde er aus rassistischen Gründen verfolgt und konnte seine Tätigkeit an der Akademie nicht mehr fortsetzen. Er kam in einem unbekannten Lager im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zu Tode.

Ab 1925/26 war er an der Physiologischen Abteilung der BVA tätig. Kun arbeitete an einem selbst finanzierten Laborplatz und als Assistent des Hormonforschers Eugen Steinach, der die Abteilung leitete. 1928 nahm er das Studium der Medizin auf, das er 1931 mit der Promotion abschloss. Heinrich Kun war unter anderem an grundlegenden Experimenten zur Sexualhormonforschung beteiligt.

Wegen seiner jüdischen Herkunft war der Verbleib von Heinrich Kun nach dem „Anschluss“ an der Akademie bedroht. In der nach dem „Anschluss“ erstellten „Liste der Arbeitenden“ der BVA ist Kun als „Nicht-Arier“ gekennzeichnet. Er ist neben Mona Lisa Steiner der einzige BVA-Mitarbeiter jüdischer Herkunft, der in der neuen „Liste der Arbeitenden 1938“ eingetragen ist. Diese Liste wurde offenkundig nach der Wiedereröffnung der von jüdischen Forscher/innen weitestgehend „gesäuberten“ BVA am 26. April 1938 erstellt. Noch bis Dezember 1938 leitete er die Abteilung stellvertretend für Eugen Steinach, der nach einer Vortragsreise in Italien im Frühjahr 1938 in die Schweiz emigriert war. Mit einer Ausnahmegenehmigung für jüdische Forscher sollte er Untersuchungen weiterführen, die im Rahmen der Kooperation mit der deutschen Pharmafirma Schering vereinbart worden waren. Franz Köck, der nach dem „Anschluss“ als Leiter der BVA tätig wurde, trug dafür Sorge, dass die Arbeits- und Labormaterialien von Steinach nach dem Ausscheiden Kuns an der Versuchsanstalt verblieben. Kun durfte die BVA nach dem Auslaufen seiner Ausnahmegenehmigung im Dezember 1938 nur noch ein Mal zur Übergabe der Abteilung betreten.

Steinach, der Kun offensichtlich sehr schätzte und seine Forschungen weiter betrieben wissen wollte, setzte sich aus seinem Schweizer Exil für diesen wiederholt ein. Im September 1938 beschaffte er seinem Mitarbeiter und dessen Frau Friederika, geb. Reismann (geb. 1899) – über den befreundeten Mediziner Harry Benjamin – die notwendige Bürgschaft zur Einreise in die USA. Allerdings nahm Kun die Möglichkeit zur Emigration zunächst nicht wahr, weil kein Arbeitsplatz garantiert werden konnte. Im folgenden Jahr versuchte Steinach für ihn erneut über Benjamin einen Arbeitsplatz in den USA zu finden. Darüber hinaus konnte er Kuns Existenz in Wien durch Verhandlungen mit Schering bis Ende des Jahres 1939 finanzieren. Die Pharmafirma hatte sich auch bereit erklärt, für Heinrich Kun die Reise in die USA zu bezahlen. Jedoch scheiterte seine Flucht. 1940 wurde ihm die Einreise von den U.S.-Behörden verweigert. Sein weiteres Schicksal ist weitgehend unbekannt. Das letzte Lebenszeichen Heinrich Kuns ist sein Name auf der „List of non-Yugoslavian Jewish refugees in Nis, 1941“. Über seinen Tod gibt es keine gesicherten Quellen. Heinrich Kun wurde am 11. Jänner 1949 für tot erklärt.


Schriften (Auswahl)


  • Eugen Steinach – Heinrich Kun – Walter Hohlweg, Reaktivierung des senilen Ovars und des weiblichen Gesamtorganismus auf hormonalem Weg, in: Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 219 (1928), 325–336.
  • Eugen Steinach – Heinrich Kun, Luteingewebe und männliche Geschlechtscharaktere, in: Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 227 (1931), 266–278.
  • Eugen Steinach – Heinrich Kun – Oskar Peczenik, Beiträge zur Analyse der Sexualhormonwirkung. Tierexperimentelle und klinische Untersuchungen, in: Wiener klinische Wochenschrift 49 (1936), 899–903.
  • Heinrich Kun – Oskar Peczenik, Die perorale Verabreichung männlicher Sexualhormone und deren Kombination mit weiblichem Hormon beim Säugetier. Nachweis der Wirkung am elektrischen Rattentest (Mitt. Physiol. Abt. der biologischen Versuchsanstalt der Akademie der Wissenschaften in Wien 264), in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse Bd. 74, Wien 1937, 131–133.


Quellen und Literatur (Auswahl)


  • Archiv der ÖAW, Bestand BVA.
  • Archiv der ÖAW, NL Fritz Knoll, K. 1, Mappe 2, Konv. „Akten (1935)1938“ („Liste der Arbeitenden“).
  • Archiv der Universität Wien, Med. Fak. Promotionsprotokoll.
  • Landesgericht f. ZRS Wien, Abt. 48, Zahl 48T 2826/48–7.
  • Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach f. d. J. 1927–1937.
  • Renate Feikes, Emigration jüdischer Wiener Ärzte ab 1938 in die USA, speziell nach New York, Bd. 2, Dissertation, Universität Wien 1999, 39.
  • Cheryl A. Logan – Sabine Brauckmann, Controlling and Culturing Diversity: Experimental Zoology before World War II and Vienna’s Biologische Versuchsanstalt, in: Journal of Experimental Biology 323, 4 (2015), 211–226.
  • Per Södersten – David Crews – Cheryl Logan – Rudolf Werner Soukup, Eugen Steinach, The First Neuroendocrinologist, in: History of Endocrinology 155, 3 (2014), 688–702.
  • Heiko Stoff, Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln–Weimar–Wien 2004.
  • Klaus Taschwer, Vertrieben, verbrannt, verkauft und vergessen, in: derStandard.at, 19.2.2013.
  • Klaus Taschwer, Vertrieben, verbrannt, verkauft, vergessen und verdrängt. Über die nachhaltige Vernichtung der Biologischen Versuchsanstalt und ihres wissenschaftlichen Personals, in: Johannes Feichtinger – Herbert Matis – Stefan Sienell – Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, 105–115, hier: 111.
  • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 233.
  • Sonja Walch, Sexualhormone in der Laborpraxis: Eugen Steinachs Experimente und seine Kooperation mit Schering (1910–1938), Dissertation, Universität Wien 2011, 248, 250, 254, 256–57, 259, 260.


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