06.12.2016

Backpacker von anno dazumals

Ob die Sphinx im ägyptischen Gizeh oder die Niagarafälle in den USA: Die „Must See“-Reiseziele unterschieden sich um 1900 kaum von heute. Die ÖAW-Forscherin Ulrike Czeitschner hat historische Reiseführer mit digitalen Methoden untersucht und sich an die Fersen früher Reisender geheftet.

Abbildung zu Ägypten aus einem Baedeker von 1877

Mit dem Kamel durch den Vorderen Orient? Was heute eine Abenteuerreise wäre, war für den Urlauber im Jahre 1875 durchaus nicht ungewöhnlich. Da war es praktisch, dass im „Baedeker“-Reiseführer Entfernungen nicht nur in Kilometern sondern auch in Kamel-Stunden angegeben waren. Die berühmten kleinen Büchlein im roten Leineneinband fanden sich um die Jahrhundertwende in so manchem Reisegepäck, heute sind sie für die Wissenschaft eine ergiebige Quelle zu frühem Tourismus und den zeitgenössischen Sichtweisen auf andere Kulturen.

Die Kulturwissenschaftlerin Ulrike Czeitschner vom Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat in ihrem Forschungsprojekt „travel!digital“ Reiseführer des Leipziger Baedeker-Verlags aus der Zeit von 1875 bis 1914 untersucht und mit digitalen Methoden für die weitere Forschung aufbereitet. Die Ergebnisse präsentierte sie bei der diesjährigen Digital Humanities Austria Konferenz an der ÖAW.

Im Interview erzählt Czeitschner von den Reise-Hot-Spots vergangener Zeiten, dem „typischen“ Urlauber um 1900 und erklärt, welche Vorteile eine digitale Erschließung historischer Quellen der heutigen Forschung bieten.

Backpacker oder All-Inclusive-Urlauber – wie kann man sich die Reisenden vor rund 100 Jahren vorstellen?

Ulrike Czeitschner: Fernreisende in der zweiten Hälfte des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts hat man sich, wenig erstaunlich, überwiegend männlich, gebildet, gut situiert und mit viel Zeit ausgestattet, vorzustellen. Durchschnittliche Reisen in außereuropäische Länder dauerten zwischen einem und mehreren Monaten, je nachdem, welches Reiseziel und welche Anreiseroute gewählt wurden. Die Hin- und Rückreise nach und von Indien etwa nahm laut „Baedeker“ gut drei Wochen in Anspruch. Reisende mussten aber auch flexibel sein, denn je nach Reiseziel trafen sie auf unterschiedliche Reisebedingungen.

So unterscheiden sich die Verkehrsverhältnisse in Palästina und Syrien im Jahr 1875 massiv von jenen in Indien 1914. Syrien hat noch keine Eisenbahnen, auch Landstraßen sind nicht vorhanden. Man musste also reiten. Aus diesem Grund ist der Maßstab zur Sinai-Halbinsel im „Baedeker“ nicht nur in Kilometern, sondern auch in Kamel-Stunden angegeben. Indien dagegen war wesentlich leichter zu bereisen aufgrund eines ausgedehnten Eisenbahnnetzes. Darüber hinaus standen dort auch Automobile und für vorsichtigere Reisende Sänften zur Verfügung.

Welche Destinationen waren anno dazumals die „Must See“-Plätze?

Czeitschner: Die „Must See“-Plätze jener Zeit ähnelten im Grunde heutigen Anziehungspunkten. Allerdings zählten auch Industriebauten und Fabriken zu den Sehenswürdigkeiten. Insgesamt dominierte damals das Interesse an Bau- und Kunstdenkmälern, es wurden in den Reiseführern aber auch Natur und Landschaft, Brauchtum, Folklore oder Outdoor-Aktivitäten mit Sternen versehen und damit als besonders sehens- oder erlebenswert eingestuft.

Man kann jedenfalls davon ausgehen, dass Reisende die gesamte Angebotspalette "konsumiert" haben. Neben der Perlmoschee in Agra und dem Goldenen Tempel von Amritsar in Indien, gehören die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, die ägyptischen Pyramiden und Abu Simbel sowie die Antikensammlungen von Neapel über Athen bis Kairo zu den beliebten Zielen. Auch in die USA wurde gereist, etwa zum Canyon des Colorado, dem Muir-Gletscher oder zu den Niagara-Fällen, wo man beispielsweise schon damals eine Bootsfahrt auf der „Maid of the Mist“ unternehmen konnte, eine Tour, die übrigens bis heute angeboten wird. Erwähnen könnte man auch die "Columbische Weltausstellung" 1893 in Chicago, das "Straßenleben" in Kairo oder die "unterseeischen Korallengärten" vor Suez.

Wie sahen die Tipps an die Reisenden im Umgang mit den Einheimischen aus?

Czeitschner: Diese Tipps fallen zweigeteilt aus. Es finden sich sowohl herablassende als auch wohlwollende Formulierungen. Ganz der Zeit entsprechend trifft man Eurozentrismus und Weltoffenheit zugleich an. Landessitten und Gebräuche werden den Reisenden aber niemals näher gebracht, ohne zugleich Respekt und würdiges Benehmen einzumahnen.

Ihr Schwerpunkt ist die digitale Aufarbeitung des historischen Bestandes an „Baedeker“-Reiseführern. Was passiert dabei?

Czeitschner: Im Projekt „travel!digital“ entsteht ein Corpus historischer „Baedeker“-Reiseführer. Unter einem solchen Corpus kann man sich eine elektronische Textsammlung vorstellen, die mit bestimmten Werkzeugen weiter aufbereitet wurde. Beispielsweise werden die Texte zerlegt in Sätze und Wörter. Die einzelnen Wörter werden zusätzlich mit Informationen ausgestattet. So wird etwa angegeben, um welche Wortart es sich handelt, flektierte Formen werden zudem auf eine Grundform zurückgeführt, zum Beispiel „reiste“ oder „gereist“ auf „reisen“. Dadurch lassen sich mit einer Suchabfrage alle Formen auf einmal finden.

Und welche Vorteile bieten die digitalen Werkzeuge für die Forschung?

Czeitschner: Ein Vorteil liegt darin, dass man in den Texten nach bestimmten Kriterien recherchieren kann. Man kann etwa nach einzelnen Wörtern suchen und erhält die jeweiligen Resultate in ihrem Kontext angezeigt. Man kann auch musterbasierte Abfragen durchführen und zum Beispiel nach allen Adjektiven suchen, die einem Nomen in einem bestimmten Abstand voranstehen. Das ist nicht nur hilfreich für Linguist/innen, die sich für die Struktur der Sprache interessieren, sondern auch für historische oder kulturwissenschaftliche Fragestellungen, die sich überwiegend mit Wortbedeutungen beschäftigen. So lässt sich herausfinden, mit welchen Eigenschaften „der Tourist“, „der Fremde“ oder „der Einheimische“ bedacht wurde.

Um sich einen Überblick über besonders große Datenmengen zu verschaffen, lassen sich die Ergebnisse auch graphisch darstellen, um etwa Verbindungen zwischen Akteuren und Objekten besser erkennen zu können. All das kann mithilfe digitaler Daten und Werkzeuge weitaus systematischer und unvoreingenommener erfolgen als ohne. Visualisierungen sind überdies ausschließlich im digitalen Medium möglich. Kurz: diese Werkzeuge unterstützen effizient die Datenanalyse – die Dateninterpretation muss man aber immer noch selbst vornehmen.

Ergeben sich durch digitale Tools auch neue Forschungsfragen?

Czeitschner: Durch das „Baedeker Corpus“ stehen historische Reiseführer erstmals in digitaler Form zur Verfügung. Das bedeutet, dass man die Bestandteile des deutschsprachigen Repertoires „über Kultur zu sprechen“ besser als bisher analysieren und mit konkreten Textstellen belegen kann. Das könnte für historische Vergleichsstudien bedeutsam sein, zum Beispiel wenn man nachzeichnen möchte, wie sich die Sichtweise auf Kunstwerke und kulturelles Erbe oder der Blick auf das „Eigene“ und das „Fremde“ in den Reisehandbüchern im Laufe der Zeit verändert hat. Eine weitere aktuelle Fragestellung könnte auch sein, wie sich die europäische Rezeption des Islam seit damals gewandelt hat.

 

Ulrike Czeitschner ist Senior Researcher am Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) der ÖAW mit einem wissenschaftlichen Background in Kulturgeschichte und Anthropologie. Das ACDH fördert digitale Methoden und Ansätze in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, baut dafür notwendige Infrastrukturen auf und stellt digitale Ressourcen für die Forschung zur Verfügung.

Das Projekt „travel!digital“ wurde durch das ÖAW-Programm „go!digital“ unterstützt, das innovative Forschungen in den Digital Humanities fördert. Bisher wurden insgesamt siebzehn Projekte zur Förderung ausgewählt.

Die Digital Humanities Austria Konferenz hat vom 5. bis 7. Dezember 2016 an der ÖAW ein Forum geboten, um aktuelle digitale Methoden in den Geisteswissenschaften zu diskutieren und neue Projekte in den Digital Humanities vorzustellen.

Digital Humanities Austria Konferenz 2016

Projekt Travel!digital

Förderprogramm go!digital

Austrian Centre for Digital Humanities der ÖAW