GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Leonore Brecher


geb. am 14. Oktober 1886 in Botoschan (Botoșani, Rumänien), gest. am 18. September 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk (Belarus)

Leonore Rachelle Brecher war von 1915 bis 1938 mit Unterbrechungen an der Biologischen Versuchsanstalt (BVA) der Akademie der Wissenschaften in Wien tätig. Nach dem „Anschluss“ wurde sie aus rassistischen Gründen verfolgt und konnte ihre Tätigkeit an der Akademie nicht mehr fortsetzen. Brecher wurde im September 1942 in das Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk deportiert und ermordet.

Leonore Brecher, in Botoschan (Botoșani, Rumänien) geboren, studierte an den Universitäten von Iași und Czernowitz Zoologie und Botanik. Nach Beginn des Ersten Weltkrieges setzte Leonore Brecher ihr Studium an der Universität Wien fort. Sie arbeitete bei Berthold Hatschek am II. Zoologischen Institut der Universität Wien und ab August 1915 an der BVA der Akademie der Wissenschaften, beim damaligen Leiter der Zoologischen Abteilung Hans Przibram. 1916 promovierte Brecher an der Universität Wien mit ihrer Dissertation über „Die Puppenfärbungen des Kohlweißlings“, betreut von Przibram. Nach absolvierter Lehramtsprüfung im Jahr 1917 und einem anschließenden pädagogischen Probejahr kehrte sie 1918 als „Privatassistentin“ von Przibram, d.h. von diesem aus eigenen Mitteln bezahlt, an die BVA zurück. Hier setzte Eleonore Brecher ihre Forschungen über die Farbanpassungen von Tieren an deren Umwelt fort, durch Stipendien der Akademie teilweise mitfinanziert.

Das 1923 an der Universität Wien eingereichte Habilitationsgesuch wurde erst 1926 behandelt und laut Klaus Taschwer trotz der Fürsprache Przibrams von den mehrheitlich antisemitisch eingestellten Mitgliedern der Habilitationskommission abgelehnt. 1922 hatte sich Brecher an der Errichtung des Verbandes der Akademikerinnen Österreichs (VAÖ), von Elise Richter initiiert, als Gründungsmitglied beteiligt. Von 1923 bis 1924 erhielt sie von der American Association of University Women ein International Fellowship am Physiologischen Institut der Universität Rostock. Es folgten zwei Stipendien der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft für den Aufenthalt am Pathologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (1926 bis 1928) und für Forschungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (1931 bis 1933). In der Zeit von 1928 bis 1931 hatte Brecher das Yarrow Research Fellowship of Girton College, Cambridge für Forschungsaufenthalte am Biochemical Institute in Cambridge und am Zoologischen Institut in Rostock erhalten. Ein Förderantrag, den Brecher im Juli 1933 erneut an die Notgemeinschaft richtete, wurde abgelehnt. Ihren Laborplatz an der Kieler Universität verlor sie im September 1933. Brecher kehrte im folgenden November an die BVA zurück. Hier verfasste sie „unter schwierigsten Verhältnissen“ (Taschwer) weitere Studien.

In der nach dem „Anschluss“ von der Akademie erstellten „Liste der Arbeitenden“ der BVA wurde sie als „Nicht-Arier“ vermerkt. Am 13. April 1938 wurde die BVA vorübergehend geschlossen. Ab der Wiedereröffnung am 26. April war der Zutritt nur noch für die „inzwischen auf Ansuchen mit Zulassungsscheinen beteilten Arbeitenden“ möglich, so die Mitteilung in einem Schreiben des designierten Akademiepräsidenten Heinrich Srbik (1878–1951) und des kommissarischen Rektors der Universität Wien Fritz Knoll (1883–1981), der mit der „Wahrnehmung der Interessen der Landesleitung der NSDAP für die Akademie der Wissenschaften“ betraut worden war. Damit wurde den jüdischen Forschenden spätestens mit 13. April 1938 der Zutritt zur BVA praktisch verweigert.

Leonore Brecher reiste im selben Jahr nach Cardiff (Großbritannien), wo sie an der Universität eine unbezahlte Forschungsstelle erhalten hatte. Nach kurzer Zeit kehrte sie nach Wien zurück und arbeitete ab Oktober 1938 als Lehrerin an der jüdischen Schule in der Kleinen Sperlgasse in Wien-Leopoldstadt. Dort waren auch Henriette Burchardt und Helene Jacobi, zwei weitere ehemalige Mitarbeiterinnen der BVA, tätig. Im September 1938 hatte Brecher ein Affidavit (Bürgschaft eines U.S.-Bürgers) für die Emigration in die USA erhalten. Wegen ihres Geburtsortes in Rumänien wurde Brecher von den amerikanischen Behörden jedoch an chancenloser Stelle gereiht. Verschiedene Bemühungen, etwa der International Federation of Business and Professional Women, Brecher zur Emigration zu verhelfen, scheiterten. Eleonore Rachelle Brecher wohnte zuletzt in der Rembrandtstraße 32. Sie wurde am 14. September 1942 in das Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk deportiert. Dort wurde die Zoologin am 18. September 1942, dem Tag ihrer Ankunft, ermordet.


Schriften (Auswahl)


  • Leonore Brecher, Die Puppenfärbungen des Kohlweißlings, Pieris brassicae L.: Beschreibung des Polymorphismus; Prüfung des Lichteinflusses; Chemie der Farbtypen, Dissertation, Universität Wien 1916.
  • Hans Przibram – dies., Die Farbmodifikationen der Stabheuschrecke Dixippus morosus Br. et Redt, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen 50, 1–2 (1922), 147–185.
  • Leonore Brecher, Die Puppenfärbungen des Kohlweißlings, Pieris brassicae L, in: Archiv für mikroskopische Anatomie und Entwicklungsmechanik 102, 4 (1924), 501–516, 517–548.
  • Dies. – Ferdinand Winkler, Übereinstimmung positiver und negativer Dopareaktionen an Gefrierschnitten mit jenen an Extrakten, in: Archiv für mikroskopische Anatomie und Entwicklungsmechanik 104, 3–4 (1925), 659–663.
  • Dies., Physiko-chemische und chemische Untersuchungen am Raupen- und Puppenblute (Pieris brassicae, Vanessa urticae), in: Zeitschrift für vergleichende Physiologie 2, 6 (1925), 691–713 („Aus dem Physiologischen Institut der Universität Rostock“).


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Bestand BVA.
    • Archiv der Universität Wien, Rigorosenakt 4255, Leonora Brecher, 19.6.1916; Habilakt 223, 1112.
    • Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, 56. Jg., Nr. 1–27, Wien 1919.
    • Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach f. d. J. 1915–1920, 1922–1924, 1930, 1934, 1936–1937.
    • Markus Brosch, Jüdische Kinder und LehrerInnen zwischen Hoffnung, Ausgrenzung und Deportation. VS/HS Kleine Sperlgasse 2a, 1938–1941, Diplomarbeit, Universität Wien 2012, 75–77.
    • Wolfgang L. Reiter, Zerstört und vergessen: Die Biologische Versuchsanstalt und ihre Wissenschaftler/innen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 10, 4 (1999), 585–614, hier: 600–601, 608.
    • Ralph Uhlig (Hg.), Vertriebene Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) nach 1933. Zur Geschichte der CAU im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main [u. a.] 1991, 126–128.
    • Klaus Taschwer, Andenken an eine völlig vergessene Forscherin, in: derStandard.at, 23.9.2012.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 122, 133.


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