GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Stefan Meyer, kMI 1921, wM 1932


geb. am 27. April 1872 in Wien, gest. am 29. Dezember 1949 in Bad Ischl

Stefan (Julius) Meyer wurde 1921 zum korrespondierenden Mitglied im Inland (kMI) und 1932 zum wirklichen Mitglied (wM) der Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt. Der Physiker hatte maßgeblichen Anteil am Aufbau des Instituts für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften, das er offiziell von 1920 bis 1938 sowie von 1945 bis 1947 leitete. Nach dem „Anschluss“ wurde Meyer aus rassistischen Gründen verfolgt. Im November 1938 erklärte er seinen Austritt aus der Akademie der Wissenschaften, um einem Ausschluss zuvorzukommen. 1945 wurde seine Akademiemitgliedschaft reaktiviert.

Meyer wurde als Sohn des Juristen Gotthelf Karl Meyer (1844–1905) und seiner Frau Clara Regine (1847–1924), geb. Goldschmidt (Schwester des Mineralogen Viktor Moritz Goldschmidt), in Wien geboren. Er studierte die Fächer Physik, Mathematik und Chemie an den Universitäten Wien und Leipzig. 1896 promovierte er mit seiner Dissertation „Über den Sitz der Potentialdifferenzen an Tropfenelektroden und im Kapillarelektrometer“ an der Universität Wien. Im folgenden Jahr trat er die Stelle als Assistent am Physikalischen Institut unter Ludwig Boltzmann (1844–1906) an, 1907 wechselte er als Assistent an das II. Physikalische Institut zu Franz Serafin Exner (1849–1926). 1899 habilitierte er sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien für das Fach Physik. In den Jahren 1902 bis 1904 vertrat er Ludwig Boltzmann während dessen Aufenthalt in Leipzig; nach dessen Tod 1906 bis zur Ernennung Friedrich Hasenöhrls (1874–1915) zum o. Professor wurde er mit der Leitung des Instituts für theoretische Physik betraut. 1908 erhielt Meyer den Titel eines ao. Professors, 1911 wurde er zum Extraordinarius ernannt. 1915 wurde ihm der Titel eines o. Professors verliehen, und 1920 wurde er o. Professor an der Universität Wien.

Ab 1908 war Meyer mit dem Aufbau des weltweit ersten Instituts für Radiumforschung an der Akademie der Wissenschaften betraut. Er leitete ab 1909 den Bau sowie dessen wissenschaftliche Einrichtung. Das Radiuminstitut wurde im Jahr 1910 eröffnet. In Nachfolge des nominellen Vorstandes Franz Exner übernahm Meyer, bis dahin als 1. Assistent in leitender Funktion, 1920 die offizielle Leitung des mittlerweile international renommierten Instituts für Radiumforschung. An der Akademie der Wissenschaften in Wien wurde er im Jahr 1921 zum korrespondierenden Mitglied im Inland (kMI), 1932 zum wirklichen Mitglied (wM) gewählt.

Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde Stefan Meyer durch Erlass des Bundesministeriums für Unterricht vom 22. April 1938 an der Universität Wien entlassen. Am 24. November dieses Jahres erklärte er seinen Austritt aus der Akademie der Wissenschaften, um einem Ausschluss zuvorzukommen. Meyer und sein Stellvertreter als Vorstand Karl Przibram konnten am Institut für Radiumforschung bis Anfang 1939 als „Gäste“ forschen, danach wurde ihnen der Zutritt verwehrt. Stefan Meyer übersiedelte in sein Haus nach Bad Ischl, wo er und seine Frau Emilie (1884–1953), geb. Maahs, sowie deren Tochter Agathe (gest. 1999) die Zeit des Nationalsozialismus überlebten. Sein Sohn Frederick Victor Meyer (gest. 2004) war zuvor zu Verwandten nach Großbritannien geschickt worden. In dieser Zeit verfasste er unter anderem das Buch „Richtig Schauen“ zu Optik und Formen der optischen Täuschung. Nach Kriegsende 1945 kehrte Stefan Meyer als Leiter an das Institut für Radiumforschung zurück, 1946 nahm er seine Lehrtätigkeit an der Universität Wien wieder auf. 1947 ging er in den Ruhestand. Er war bis zu seinem Tod Obmann des Kuratoriums des Instituts für Radiumforschung. Stefan Meyer verstarb am 29. Dezember 1949 in Bad Ischl.

Nachdem die Akademie der Wissenschaften in Wien in ihrer ersten Sitzung nach Kriegsende am 18. Mai 1945 die „Rückberufung der wirklichen und korrespondierenden Mitglieder, die im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen des Jahres 1938 ausgetreten sind“, beschlossen hatte, kehrte Stefan Meyer als wirkliches Mitglied (wM) in die Akademie zurück.

Stefan Meyer zählt neben Ernest Rutherford (1871–1937) und Marie und Pierre Curie (1867–1934, 1859–1906) zu den Pionieren der Erforschung der Radioaktivität. Zu seinen Schülerinnen und Schülern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zählten u.a. Marietta Blau, Friedrich August Paneth (1887–1958), Karl Przibram, Elisabeth Róna, Franz Urbach sowie die späteren Nobelpreisträger Viktor Franz Hess und Georg von Hevesy (1885–1966). Meyer war Mitglied und Sekretär der Internationalen Radium-Standard-Kommission (1910, 1937 als Nachfolger Ernest Rutherfords deren Präsident), der Normal-Eichungs-Kommission bzw. des Beirates für Masse und Gewicht (1920) und Vorstandsmitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Er wurde 1910 mit dem Franz-Josephs-Orden und 1913 mit dem Ignaz-L.-Lieben-Preis der Akademie der Wissenschaften in Wien ausgezeichnet. An der Akademie der Wissenschaften wurde 1987 das Institut für Radiumforschung in Stefan-Meyer-Institut für Subatomare Physik umbenannt.


Schriften (Auswahl)


  • Stefan Meyer – Egon Schweidler, Radioaktivität, Leipzig 1916 (2. verm. und teilw. umgearbeitete Auflage 1927).
  • Stefan Meyer, Die radioaktiven Substanzen (Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. 2, Physikalische Methoden), Berlin–Wien 1926.
  • Ders., Zur Berechnung der Geschwindigkeiten der Alphateilchen aus ihren Reichweiten und über die Beziehung zur Zahl der von ihnen erzeugten Ionenpaare (Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 362), in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, Abt. 2a, Bd. 144, 4–5, Wien 1935, 317–330.
  • Ders., Über das „Alter“ der Sonne und über die Zerfallskonstante des Actinurans und über die Mengenverhältnisse Blei zu Thor zu Uran auf der Erde (Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 393), in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, Abt. 2a, Bd. 146, 3–4, Wien 1937, 175–197.
  • Ders., Eine einfache Formel zur Berechnung der Atomgewichte aus den Massenzahlen und Packeffekten (Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 420), in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, Abt. 2a, Bd. 147, 5–6, Wien 1938, 249–260.
  • Ders., Richtig schauen. Für Maler, Konstrukteure, Photographen und Bilderfreunde, Wien 1947.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Personalakt.
    • Archiv der ÖAW, Archiv des Instituts für Radiumforschung, Nachlass Stefan Meyer.
    • Archiv der ÖAW, Protokoll der Gesamtsitzung am 18. Mai 1945 (A994).
    • Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, University of Oxford (File 335/3).
    • Hans Benndorf, Gedächtnisrede auf Stefan Meyer, in: Acta Physica Austriaca 5, 1 (1952), 152–168.
    • Silke Fengler – Carola Sachse, Kernforschung in Österreich. Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900–1978 (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 1), Wien–Köln–Weimar 2012.
    • Silke Fengler, Kerne, Kooperationen und Konkurrenz. Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950) (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 3), Wien–Köln–Weimar 2014.
    • Otto Hahn, In Memoriam Stefan Meyer, in: Zeitschrift für Naturforschung 5, 7 (1950), 407.
    • Berta Karlik, Erich Schmid, Franz Serafin Exner und sein Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Physik in Österreich, Wien 1982, 107–111.
    • Herbert Matis, Ausschluss von Mitgliedern, in: Johannes Feichtinger – Herbert Matis – Stefan Sienell – Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, 55–62.
    • Friedrich August Paneth, Robert W. Lawson, Stefan Meyer, in: Nature 165 (1950), 548–549.
      K.[arl] Przibram, w.M. Stefan Meyer, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Almanach f. d. J. 1950, 100. Jg., Wien 1951, 340–352.
    • Wolfgang L. Reiter, Stefan Meyer und die Radioaktivitätsforschung in Österreich, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 135 (2000), 105–143.
    • Wolfgang L. Reiter, Stefan Meyer. Pioneer of Radioactivity, in: Physics in Perspectives 3 (2001), 106–127.
    • Wolfgang L. Reiter, Das Jahr 1938 und seine Folgen für die Naturwissenschaften an Österreichs Universitäten, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft (=Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), Münster 22004, 664–680, hier: 667.
    • Wolfgang L. Reiter, Stefan Meyer 1872–1949. Pionier der Radioaktivitätsforschung, in: Rudolf Werner Soukup (Hg.), Die wissenschaftliche Welt von gestern. Die Preisträger des Ignaz-L.-Lieben-Preises 1865–1937 und des Richard-Lieben-Preises 1912–1928. Ein Kapitel österreichischer Wissenschaftsgeschichte in Kurzbiografien (=Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 4), Wien–Köln–Weimar 2004, 174–182.
    • Wolfgang L. Reiter, Von Erdberg in die Boltzmanngasse – 100 Jahre Physik an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl – Gerd B. Müller – Thomas Olechowski – Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, 191–209, hier: 194, 197, 198, 199, 201, 206.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 233.


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