GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Marietta Blau


geb. am 29. April 1894 in Wien, gest. am 27. Jänner 1970 in Wien

Marietta Blau war von 1923 bis 1938 Mitarbeiterin am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien. Sie verließ Wien in den „Anschluss“-Tagen. Ihr drohte rassistische Verfolgung. Sie emigrierte noch im Jahr 1938 nach Mexiko und ging 1944 in die USA. 1960 kehrte die Physikerin nach Österreich zurück.

Blau wurde als Tochter des Juristen, Hof- und Gerichtsadvokaten und Musikverlegers Mayer Markus Blau (1854–1919) und seiner Frau Florentine, geb. Goldzweig (geb. 1868), in Wien geboren. Sie studierte ab 1914 Physik und Mathematik an der Universität Wien. 1919 promovierte Blau mit ihrer Dissertation „Über die Absorption divergenter Gamma-Strahlen“, betreut von Stefan Meyer. Anschließend nahm die Physikerin unterschiedliche Stellen auf dem Gebiet der Radiologie an Forschungslabors und in der Industrie in Österreich und Deutschland an, unter anderem als Assistentin am Institut für physikalische Grundlagen der Medizin der Universität Frankfurt am Main. Von 1923 bis 1938 forschte Marietta Blau in Bereichen der Radioaktivität sowohl am II. Physikalischen Institut der Universität Wien als auch am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien, zunächst etwa gemeinsam mit Elizabeth Róna. In den Jahren 1932 und 1933 ging Blau, vom Verband der Akademikerinnen Österreichs (VAÖ) finanziert, an das I. Physikalische Institut der Georg-August-Universität Göttingen und nach Paris, wo sie ein Gastsemester am Institut Curie verbrachte. Ihre auch am Institut für Radiumforschung durchgeführten Forschungen zu photographischen Methoden in der Kernphysik führten im Jahr 1937 zur Entdeckung der so genannten „Zertrümmerungssterne“. Für diesen Nachweis der Kernreaktion durch Höhenstrahlung erhielten Marietta Blau und ihre Mitarbeiterin Hertha Wambacher (1903–1950) im selben Jahr den Ignaz-L.-Lieben-Preis der Akademie zuerkannt.

Am Abend des 12. März 1938, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Österreich, reiste Blau aus Wien ab. Nach einer Einladung der Chemikerin Ellen Gleditsch (1879–1968) ging sie an die Universität Oslo und emigrierte im Oktober des selben Jahres mit ihrer Mutter nach Mexiko. Albert Einstein (1879–1955) hatte sich in einem Empfehlungsschreiben von Februar 1938 für eine Anstellung Blaus an der Technischen Hochschule von Mexiko-Stadt eingesetzt. Tatsächlich erhielt sie eine Stelle an der Escuela Superior de Ingeniería Mecánica y Eléctrica (ESIME) del Instituto Politécnico Nacional (IPN), wo sie unter prekären Bedingungen wissenschaftlich arbeitete. 1944 übersiedelte Marietta Blau in die USA, dort war sie zunächst beim Büro der Canadian Radium and Uranium Corporation (CRUC) in New York beschäftigt. 1948 erhielt sie eine Forschungsstelle an der Columbia University in New York. Im Jahr 1950 wechselte Blau an das Brookhaven National Laboratory (NY), 1955 wurde sie Associate Professor an der University of Miami (FL). 1960 kehrte die Physikerin nach Österreich zurück und setzte ihre Forschungen am Institut für Radiumforschung und Kernphysik der Akademie der Wissenschaften fort. Bis 1964 leitete sie unter anderem eine Forschungsgruppe zur Auswertung von photographischen Aufnahmen von Teilchenspuren in Blasenkammern, die bei phototechnischen Experimenten des europäischen Kernforschungszentrums CERN gewonnen worden waren. Die Zeit nach ihrer Rückkehr war geprägt von Geldnöten, Krankheit und Isolation. Wie vor 1938 blieb ihre Tätigkeit an der Akademie auch nach 1960 ohne finanzielle Gegenleistung. Sie lebte von einer geringen Pension aus den USA. 1970 verstarb Marietta Blau.

Marietta Blau gilt als Pionierin der Kernforschung. Sie wurde fünf Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen. Diesen erhielt der britische Physiker Cecil Powell (1903–1969), der für die Entwicklung seiner photographischen Methode in der Kernforschung auf die Ergebnisse von Blau und Wambacher aufbaute. Der Antrag von Karl Przibram, sie zum Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu wählen, scheiterte. 1962 verlieh ihr die Akademie ihre höchste Auszeichnung in den Naturwissenschaften, den Erwin-Schrödinger-Preis. 1967 wurde Marietta Blau der Preis für Naturwissenschaften der Stadt Wien zuerkannt. An dem von der Physikerin besuchten Gymnasium, Rahlgasse 4 in Wien-Mariahilf, wurde 2004 anlässlich ihres 90-jährigen Maturajubiläums eine Gedenktafel angebracht. Im Jahr 2005 benannten die Universität Wien einen Saal des Hauptgebäudes und die Stadt Wien eine Gasse in Wien-Donaustadt nach Marietta Blau.


Schriften (Auswahl)


  • Marietta Blau, Über die Absorption divergenter Gamma-Strahlen, Dissertation, Universität Wien 1918.
  • Dies. – Hertha Wambacher, Über Versuche, durch Neutronen ausgelöste Protonen photographisch nachzuweisen, in: Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 299 (1932), 618–620.
  • Dies., Physikalische und chemische Untersuchungen zur Methode des photographischen Nachweises von H-Strahlen, in: Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 339 (1934), 285–301.
  • Dies., Zur Frage der Verteilung der α-Bahnen der Radiumzerfallsreihe, in: Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 387 (1936), 605–609.
  • Dies., Längenmessung von H-Strahlbahnen mit der photographischen Methode, in: Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 397 (1937), 259–272.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Bestand Institut für Radiumforschung.
    • Archiv der Universität Wien, Phil. Rig. Akt 4557.
    • Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach f. d. J. 1924–1938, 1961–1964.
    • Daniela Angetter – Michael Martischnig, Biografien österreichischer PhysikerInnen. Eine Auswahl, Wien 2005, 7–10.
    • Brigitte Bischof, Frauen am Wiener Institut für Radiumforschung, Diplomarbeit, Universität Wien 2000.
    • Brigitte Bischof, Marietta Blau (1894–1970), in: Gerhard Heindl (Hg.), Wissenschaft und Forschung in Österreich. Exemplarische Leistungen österreichischer Naturforscher, Techniker und Mediziner, Frankfurt am Main 2000, 147–158.
    • Brigitte Bischof, „… junge Wienerinnen zertrümmern Atome …“. Physikerinnen am Wiener Institut für Radiumforschung (= NUT – Frauen in Naturwissenschaft und Technik e.V. Schriftenreihe 10), Mössingen-Talheim 2004, bes. 90–116 (mit Foto).
    • Johannes Feichtinger, Transformationen der Forschungspolitik, in: Johannes Feichtinger – Herbert Matis – Stefan Sienell – Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, 117–126, hier: 122.
    • Silke Fengler – Carola Sachse, Kernforschung in Österreich. Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900–1978 (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 1), Wien–Köln–Weimar 2012, 8, 15, 26–27, 32, 36–37, 40, 44–45, 90, 100, 211–238, 346, 357–359, 361–362, 398.
    • Silke Fengler, Kerne, Kooperationen und Konkurrenz. Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950) (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 3), Wien–Köln–Weimar 2014, 23, 163, 166–167, 196–197, 199–201, 203–206, 239, 275, 282–283, 289, 327.
    • Peter Galison, Image and Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago–London 1997, 146–160.
    • Leopold Halpern, Marietta Blau (1894–1970), in: Louise S. Grinstein – Rose K. Rose – Miriam H. Rafailovich (Hg.), Women in Chemistry and Physics. A Biobibliographic Sourcebook, Westport, Connecticut–London 1993, 57–64.
    • Waltraud Heindl, Bildung und Emanzipation. Studentinnen an der Universität Wien, in: Mitchell Ash – Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen 2015, 529–563, hier: 548–549.
    • Wolfgang L. Reiter, Österreichische Wissenschaftsemigration am Beispiel des Instituts für Radiumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft (Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), Münster 22004, 709–729, hier: 720–722.
    • Wolfgang L. Reiter, Von Erdberg in die Boltzmanngasse – 100 Jahre Physik an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl – Gerd B. Müller – Thomas Olechowski – Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, 191–209, hier: 198, 201, 207.
    • Maria Rentetzi, Marietta Blau 1894–1970, in: Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia, Jewish Women’s Archive.
    • Robert W. Rosner – Brigitte Strohmaier (Hg.), Marietta Blau – Sterne der Zertrümmerung. Biographie einer Wegbereiterin der modernen Teilchenphysik (= Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 3), Wien–Köln–Weimar 2003.
    • Reinhard W. Schlögl, Marietta Blau und Hertha Wambacher 1894–1970 - 1903–1950. Die Entdeckung der Kernzertrümmerung, in: Rudolf Werner Soukup (Hg.), Die wissenschaftliche Welt von gestern. Die Preisträger des Ignaz-L.-Lieben-Preises 1865–1937 und des Richard-Lieben-Preises 1912–1928. Ein Kapitel österreichischer Wissenschaftsgeschichte in Kurzbiografien (= Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 4), Wien–Köln–Weimar 2004, 314–321.
    • Ruth Lewin Sime, Twice Removed: The Emigration of Lise Meitner and Marietta Blau, in: Friedrich Stadler (Hg.), Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die Folgen für die naturwissenschaftliche und humanistische Lehre. Internationales Symposium 5. bis 6. Juni 2003, Wien–New York 2004, 153–170.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 120, 267.


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