16.05.2022 | Buchprojekt

"Geschichte von Österreichern und Slowenen ist nicht einfach trennbar"

Slowenien und Österreich sind heute zwei getrennte Staaten. Doch über Jahrhunderte prägte beide Länder eine gemeinsame Geschichte. Historiker/innen der ÖAW und der Slowenischen Akademie wollen diese nun zusammen aufarbeiten. Das neue zweisprachige Geschichtsbuch soll auch zu einem besseren Verständnis zwischen beiden Ländern beitragen.

Der Grenztisch an der österreichisch-slowenischen Grenze in Glanz wurde 2013 eröffnet auf einstmals bewachtem Grenzgebiet. Wo zu Zeiten Jugoslawiens bewaffnete Soldaten patrouillierten, kann man heute die Aussicht in beide Länder genießen. © Shutterstock

Obwohl Slowenien und Österreich Nachbarn sind und längst unter dem gemeinsamen Dach der Europäischen Union, gibt es immer noch Stereotype und Vorurteile im Verhältnis beider Länder, besonders wenn es um den Blick auf die lange – und gemeinsame – Geschichte geht. „Unser Geschichtsbuch richtet sich auch gegen nationalistische Vorurteile und Klischees“, sagt daher der Historiker Oliver Jens Schmitt. „Es soll darum gehen, die Denkweise des Gegenübers besser zu verstehen und dadurch zu einer guten Nachbarschaft beizutragen.“ 

Mit „unserem Geschichtsbuch“ meint Schmitt ein Publikationsvorhaben der beiden Akademien der Wissenschaften Sloweniens und Österreichs. Sie arbeiten gemeinsam an einem Buchprojekt, das sich der österreichisch-slowenischen Geschichte widmet. Es wird zweisprachig sein und sich mit dem Verhältnis der beiden Nachbarländer vom Frühmittelalter des 6. Jahrhunderts bis in die Gegenwart beschäftigen. Im Interview erklären die mitwirkenden Historiker Peter Štih von der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste und Oliver Jens Schmitt von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), wie ein integrierter Kulturraum in zwei moderne Nationalstaaten zerfallen ist.

PERSPEKTIVEN BEIDER LÄNDER IN EINEM BUCH

Wie kam es zur Idee für das Buch?

Peter Štih: Im Jahr 2019 erschien nach vielen Jahren der Vorbereitung das österreichisch-tschechische Geschichtsbuch mit dem Titel »Nachbarn«. Das war der Anstoß für die Parlamentspräsidenten Österreichs und Sloweniens, sich an die Akademien beider Länder zu wenden mit der Frage, ob wir ein ähnliches österreichisch-slowenisches Geschichtsbuch vorbereiten könnten. Die Anregung kam also aus der Politik, aber das Projekt hat rein wissenschaftlichen Charakter. Das war auch unsere Grundbedingung, wobei wir die Ansicht teilen, dass so ein Buch viel zum besseren Verständnis von zwei Nachbarn mit einer langen gemeinsamen Geschichte beitragen kann.

Oliver Jens Schmitt: Wir werden die Beziehungsgeschichte der österreichischen und slowenischen Nachbarn auf dem neuesten Stand der Forschung beschreiben und dabei neben vielen Gemeinsamkeiten auch schwierige Themen besonders der jüngeren Vergangenheit darstellen, um ein besseres Verständnis zwischen den Ländern zu fördern. Das ist eine Aufgabe, die maßgeschneidert für Akademien der Wissenschaften ist, weil wir hier in Ruhe und ohne den bei Forschungsprojekten üblichen Zeitdruck arbeiten können. Projekte wie unser Geschichtsbuch richten sich auch gegen nationalistische Vorurteile und Klischees. Es soll darum gehen, die Denkweise des Gegenübers besser zu verstehen und dadurch zu einer guten Nachbarschaft beizutragen. 

EINE GESCHICHTE DER ENTFREMDUNG

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Österreich und Slowenien beschreiben?

Štih: Wenn wir über die slowenisch-österreichischen Beziehungen in historischer Perspektive reden, müssen wir uns bewusst sein, dass das Geschichtsbild, das Österreicher/innen und Slowen/innen von ihrem jeweiligen Nachbarn haben, mit Vorurteilen und Klischees belastet ist. Schon im 19. Jahrhundert kam es im Zuge der nationalen Differenzierung zur Entstehung von Feindbildern auf beiden Seiten. In slowenischer Perspektive galten seither die Deutschen bzw. Österreicher als Erbfeinde, deren Ziel es war, die Slowenen zu vernichten und die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs dienten als eine Art Kronzeuge dafür. Es ist unumstritten, dass die slowenisch-österreichischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert schwer belastet waren. Doch darf darüber nicht aus dem Blick geraten, dass es auch Zeiten der Zusammenarbeit, Solidarität und guten Beziehungen zwischen beiden Nachbarn gab, die ja Jahrhunderte lang in einem gemeinsamen Raum lebten, das gleiche geschichtliche Schicksal teilten und auch die jeweiligen Sprachen verstanden. Es gilt also ein differenziertes Bild zu zeichnen und das ist eine der Aufgaben unseres Buches.

Schmitt: Eine Frage war, ob es überhaupt Sinn ergibt, ein Buch über die Beziehungsgeschichte von Slowen/innen und Österreicher/innen zu machen, wenn doch bis 1918 alle Slowen/innen durch ihre Zugehörigkeit zur Monarchie Österreicher/innen waren. Bis 1918 hatte der Begriff Österreicher/in eine andere Bedeutung als heute. Auf beiden Seiten der Grenze sind Musik, Küche und Wein fast identisch. Die Krain, Steiermark, Kärnten und das Küstenland waren über lange Zeit sozial, kulturell und wirtschaftlich ein integrierter Raum. Erst ab 1918 wurde das Gebiet dann entlang der neuen Staatsgrenzen gespalten. In der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts erfolgte eine zunehmende Entfremdung: Die Verbrechen des Nationalsozialismus, Gewaltakte kommunistischer Partisanen und gegenseitige Gebietsansprüche sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Viele nachbarschaftliche Elemente, die über lange Jahrhunderte gewachsen waren, wurden dabei leider zerschlagen. 

Wie hat die Geschichte des gemeinsamen Kulturraums begonnen?

Štih: Die slowenisch-österreichische Geschichte begann lange bevor es Slowen/innen und Österreicher/innen oder Slowenien und Österreich gab. Sie reicht bis zum Frühmittelalter zurück als zuerst die Slawen und dann die Bayern in den Ostalpenraum kamen. Sie brachten auch ihre eigenen Sprachen mit, aus denen das heutige Slowenisch und das österreichische Deutsch entstanden sind. Beide Gruppen lebten nicht nur im selben Raum, sondern seit Karl dem Großen auch in demselben Staat. Im Frühmittelalter wurden damit die Grundsteine für die gesamte spätere Geschichte der wechselseitigen Beziehungen gelegt und damals begann sich auch der gemeinsame Kulturraum zu entwicklen, der dann Jahrhunderte, ja man kann sagen Jahrtausende, existierte.

Schmitt: Wir haben uns schnell geeinigt, die gemeinsame Geschichte des Raums zwischen dem Frühmittelalter und 1918 zu untersuchen. Im Südostalpenraum haben die Menschen ungeachtet ihrer Sprachzugehörigkeit fast durchgehend friedlich zusammengelebt, erst im 19. Jahrhundert kamen nationale Ideen auf. Feindseligkeiten sind aus historischer Perspektive also spät aufgetreten und waren im Vergleich zur gemeinsamen Geschichte von kurzer Dauer. Das 20. Jahrhundert war sehr konfliktbelastet, aber seitdem beide Länder in der EU sind, gibt es wieder einen gemeinsamen Staatenverbund, der gleichsam als Dach wirkt, und die bilateralen Beziehungen haben sich stark verbessert. 

EUROPA VERBINDET

Wie hat sich das Verhältnis zuletzt entwickelt?

Štih: Die jüngste Vergangenheit mit dem Beitritt beider Nachbarn zur Europäischen Union ist ein wichtiger Schwerpunkt des Buches. Die Beziehungen zwischen Slowen/innen und Österreicher/innen sowie zwischen den beiden Ländern haben sich in der EU deutlich verbessert, was sich unter anderem in Kärnten zeigt, wo 2020 das hundertjährige Jubiläum der Kärntner Volksabstimmung erstmals gemeinsam und in konziliarem Geist gefeiert wurde. Das letzte Kapitel des Buches befasst sich mit dieser Entwicklung und bringt so einen positiven Abschluss. Einen Ausblick auf die Zukunft der Beziehungen wagen wir nicht, aber wenn wir die Geschichte kennen, können wir daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen und versuchen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. 

Schmitt: Die Beziehungen sind heute gut, besonders auch auf der wirtschaftlichen Ebene. Die offiziellen Verbindungen haben seit rund dreißig Jahren eine neue Qualität: Österreich hat die Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens von Anfang an unterstützt. Seit 2004 sind beide Länder in der EU. Die nachbarschaftlichen Beziehungen, der kleine Grenzverkehr, Wirtschaft und Tourismus gedeihen auf beiden Seiten. Die Ressentiments nehmen ab, das war, wie Kollege Štih richtig anmerkt, zum hundertjährigen Jubiläum der Kärntner Volksabstimmung gut zu sehen. Da gab es keine scharfen Positionen wie früher mehr. Dennoch weiß man in beiden Ländern doch recht wenig über den jeweiligen Nachbarn und die lange Periode einer gemeinsamen Vergangenheit.

Wie schwierig ist es, über Sprach- und Landesgrenzen hinaus ein solches Projekt durchzuführen?

Štih: Es ist sicher eine Herausforderung, ein so umfassendes Thema in einem Buch mit 400 Seiten so zu präsentieren, dass es wissenschaftlich und fachlich korrekt bleibt und trotzdem gut lesbar ist. Wenn es verschiedene Betrachtungen geben sollte, werden wir das auch so festhalten. Es gibt keinen Druck, überall eine gemeinsame Linie zu finden; verschiedene Perspektiven sind keine Hindernis. Allerdings erwarte ich keine großen Differenzen, alle Beteiligten sind Wissenschaftler/innen, die die Quellen und den aktuellen Stand der Forschung kennen. Sie haben daher einen guten Einblick in die Geschichte. 

Schmitt: Die Historiker/innen der ÖAW kennen natürlich auch die slowenischen Quellen im Überblick, aber in Österreich gibt es wenige Forschende, die sowohl zweisprachig als auch historisch kompetent sind. Hier sind uns die Nachbarn weit voraus. Die slowenischen Kolleg/innen können alle Deutsch zumindest lesen, so können wir auch unsere Sitzungen auf Deutsch abhalten, was ganz dem Entgegenkommen der slowenischen Seite zu verdanken ist. Durch unser Buch wird hier auch viel Forschungswissen aus Slowenien zugänglich gemacht und vielleicht regt das Projekt junge Historiker/innen in Österreich an, in Zukunft wieder vermehrt Slowenisch zu lernen.

WIDER DEN NATIONALEN BLICK

Was kann ein auf grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten aufbauendes Geschichtsbuch leisten?

Štih: Wir sind sehr froh über die Möglichkeit, ein solches Buch zu gestalten. Die Zusammenarbeit mit den Kolleg/innen aus Österreich funktioniert wirklich gut und hat auch eine lange Tradition, auf der wir aufbauen können. Ich glaube, dass wir alle zufrieden sind, einen wichtigen Beitrag zur Verständigung zwischen den Nachbarn leisten zu dürfen und die Basis für künftige Zusammenarbeit und freundschaftliche Beziehungen mitzugestalten.

Schmitt: Trotz der europäischen Integration werden die Geschichtsbilder und Interessen der Staaten in ganz Europa seit einigen Jahren wieder nationaler. Schulen und Medien pflegen letztlich doch einen nationalen Blick. Das Buch richtet sich an allgemein Geschichtsinteressierte, die Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und Slowenien und allgemein im südöstlichen Alpenraum entdecken möchten. Denn hier handelt es sich doch um einen klassischen alteuropäischen Raum mit einer reichen Kultur. Die heutige Staatsgrenze spielte für sehr lange Zeit keine Rolle. Das Zusammenleben in einem gemeinsamen Staatsverband wie der EU beruht auch auf der Kenntnis der Vergangenheit und auf der im 20. Jahrhundert bisweilen vergessenen Erkenntnis, dass einem die Nachbarn oftmals näher sind als man meint.

 

AUF EINEN BLICK

Peter Štih ist Professor am Institut für Geschichte der Universität von Ljubljana und Präsident der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste. 2008 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der ÖAW im Ausland gewählt.

Oliver Jens Schmitt ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und Präsident der philosophisch historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.