03.04.2024 | Anthropologie

Dialog als Schlüssel zur Urgeschichte

Um die Gesellschaften der Vergangenheit besser zu verstehen, sind Untersuchungen aus vielfältigen Perspektiven nötig. ÖAW-Forscherin Sabina Cveček plädiert dafür, den Dialog zwischen den daran beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen, von der Archäogenetik bis zur Kultur- und Sozialanthropologie, weiter gezielt zu stärken.

Vorgeschichtliche Hinterlassenschaften wie die Höhlenmalereien in der "Höhle der Hände" werfen viele Fragen auf. Die besten Antworten darauf liefern Untersuchungen, die nicht an der Grenze von wissenschaftlichen Fachbereichen Halt machen. © AdobeStock

Interdisziplinarität ist auch in der archäologischen Forschung längst selbstverständlich. Und doch schlummert gerade in Zusammenarbeit und Dialog zwischen den Disziplinen ein enormes Erkenntnispotenzial über frühere menschliche Gesellschaften, das noch gehoben werden kann. Davon ist Sabina Cveček, Kultur- und Sozialanthropologin am Österreichischen Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), überzeugt. Warum das so ist, schildert sie im Gespräch. 

Wie stehen Sie als Kultur- und Sozialanthropologin zur Erforschung antiker DNA?

Sabina Cveček: Für mich sind die Art der Fragen, die wir stellen, wenn wir genetische Studien durchführen, und die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, von Bedeutung. Sind wir nur daran interessiert, zu beweisen, dass wir alle von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen? Oder gibt es andere wichtige Fragen zu unserer Vergangenheit zu stellen? Wir wissen, dass der Mensch nicht vollständig durch seinen biologischen Hintergrund oder seine Gene bestimmt wird. In vielen Kulturen bestimmen beispielsweise die Heiratsbräuche, wen man heiraten kann und wo man danach wohnt. Deshalb ist es wichtig sowohl die genetischen Ergebnisse, die materiellen Strukturen als auch die Alltagspraktiken zu analysieren, um die soziale Organisation früherer Gesellschaften zu erforschen.

Ein Fenster in die Vergangenheit

Das Gebiet der Archäogenetik ist noch relativ jung.

Cveček: Es war im Jahr 1967 als durch vergleichende Genetik festgestellt wurde, dass sich der Homo Sapiens erst vor fünf Millionen Jahren vom Schimpansen abspaltete und nicht wie bisher angenommen vor 30 Millionen Jahren. Durch solche evolutionären Perspektiven wurde klar, dass die Genetik einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis unserer menschlichen Vergangenheit leisten kann. In den späten 80er und 90er Jahren begannen Genetiker DNA in archäologischem Material zu untersuchen. Die daraus entstehende Archäogenetik kämpfte jedoch im ersten Jahrzehnt mit Kontaminationen mit moderner DNA, die falsche Ergebnisse produzierten und dann Misstrauen erweckten. Seitdem hat sich der Stand der Technik jedoch weiterentwickelt, und die neuen Sequenziermethoden verringern die Gefahr auf Kontaminationen basierende Ergebnisse zu produzieren.

In Ihrem Beitrag sprechen Sie sich dafür aus, das Feld und die Deutungshoheit nicht allein den Archäogenetiker:innen zu überlassen. Besteht die Gefahr, dass sich biologische Interpretationen der menschlichen Zugehörigkeit durchsetzen?

Cveček: Was die Verwandtschaft betrifft, so wissen wir aus einer kulturübergreifenden Perspektive, dass Verwandtschaftsbeziehungen durch weit mehr als nur die Abstammung definiert werden. Selbst im Westen, wo Verwandtschaft im Allgemeinen durch Blutsverwandtschaft definiert wird, werden Kinder genauso adoptiert und wachsen in Pflegefamilien auf. Diese Kinder tragen keine genetische Signatur enger biologischer Verwandtschaft, bilden aber dennoch eine Familie. Daher ist es entscheidend, dass wir solche nicht-biologischen Verbindungen zwischen Personen ernst nehmen und sie als gleichwertige Möglichkeiten der Erziehung, der Verwandtschaft und der Verbundenheit durch soziale und nicht biologische Bindungen behandeln.

Was fehlt, ist die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Perspektiven.

Inwieweit schreiben Radiokarbondatierungen und alte DNA-Analysen die Geschichte der Menschheit neu?

Cveček: Die Radiokarbondatierung hat die Archäologie revolutioniert. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der präzisen Datierung archäologischer Schichten. Aber es geht nicht so sehr darum, die Vergangenheit neu zu schreiben, sondern darum, naturwissenschaftliche Ansätze in die Archäologie zu integrieren. Archäolog:innen arbeiten selbstverständlich mit Geolog:innen, Chemiker:innen und Bodenwissenschaftler:innen zusammen und/oder setzen Fernerkundung ein. Was jedoch fehlt, ist die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Perspektiven, die untersuchen, wie Gesellschaften in der Praxis funktionieren. Es braucht ein Verständnis dafür, dass die Anerkennung kultureller Vielfalt über die von uns entwickelten theoretischen Modelle hinaus wesentlich ist.

Die Rolle von Interdisziplinarität 

Warum ist es wichtig, dass Genetiker:innen bei der Planung und Interpretation von genetischen Analysen mit Archäolog:innen und Sozialwissenschaftler:innen zusammenarbeiten?

Cveček: Ich denke, dass dies noch nicht in ausreichendem Maße getan wird. Das ist ein Bereich, der in Zukunft ausgebaut werden sollte. Mein Marie-Curie-Projekt X-KIN unternimmt Schritte in Richtung einer solchen Zusammenarbeit. Sozial- und Kulturanthropolog:innen werden verstärkt dazu beitragen, die eurozentrischen Denkweisen zu dezentrieren. In Mitteleuropa gibt es eine ausgeprägte Spaltung zwischen physischer Anthropologie, Archäologie, soziokultureller Anthropologie und Linguistik. Im Gegensatz dazu versuchte der seit Beginn des 20. Jh. von Franz Boas in den Vereinigten Staaten entwickelte Ansatz der Vier-Felder-Anthropologie, die unterschiedlichen Fraktionen in diesen vier verschiedenen Teilbereichen zu einer Disziplin namens Anthropologie zusammenzuführen. Wir sollten darauf hinarbeiten, diesen lobenswerten Dialog fortzusetzen.

Seit 150 Jahren dokumentiert die Kultur- und Sozialanthropologie die weltweit zu beobachtende große soziale Vielfalt.

Seit 150 Jahren dokumentiert die Kultur- und Sozialanthropologie aus erster Hand die weltweit zu beobachtende große soziale Vielfalt. Im Gegensatz dazu reichen die Einblicke der Archäologie in Gesellschaften bis in die tiefe Vergangenheit. Indem wir unsere Kräfte bündeln, können wir versuchen, das Innenleben vergangener Gesellschaften auf eine Weise zu verstehen, die bisher als unmöglich galt. Und es wird immer deutlicher, dass das Verständnis verschiedener sozialer Strukturen in Vergangenheit und Gegenwart auch Aufschluss über zukünftige Möglichkeiten geben kann.

Ist Interdisziplinarität für Sie unverzichtbar?

Cveček: Soziokulturelle und naturwissenschaftliche Ansätze sind beide unerlässlich und gleich wichtig. Interdisziplinarität wird aber erschwert durch Mauern in der Kommunikation, Missverständnisse, und grundsätzliche Verdächtigungen zwischen sozial- und geisteswissenschaftlichen Akademiker:innen. Ich bin der ÖAW dankbar, dass sie mir seit 2016 ermöglicht, interdisziplinär zu arbeiten. In Mitteleuropa ist das immer noch eine Seltenheit. 

 

AUF EINEN BLICK

Sabina Cveček studierte Kultur- und Sozialanthropologie an den Universitäten in Ljubljana, Wien und Halle/Saale und ist Postdoktorandin am Österreichischen Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie ist gewähltes Mitglied des Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland. Von 2023 bis 2025 ist sie als Marie-Curie-Stipendiatin am Field Museum in Chicago tätig.