Fritz Rothberger – leidenschaftlicher Mathematiker und inspirierender Lehrer im kanadischen Exil

Walter Kohn, der 1998 den Nobelpreis für Chemie erhielt, erinnerte sich zeitlebens an Fritz Rothberger, der ihn im Internierungslager in Kanada in die Welt der Mathematik eingeführt hatte:„Rothberger unterrichtete uns normalerweise im Freien, wo er kurze Hosen und Stiefel trug und sonst nichts. Er benutzte einen Stock und eine sandige Fläche als Tafel, um uns über die verschiedenen Arten von Unendlichkeiten zu unterrichten [...]. Er war ein äußerst liebenswürdiger und bescheidener Mann, dessen Liebe für die eigentliche Tiefe und Schönheit der Mathematik nach und nach von seinen Studenten aufgesogen wurde.“

Fritz (Friedrich) Rothberger entstammte der Wiener Schneider- und Kaufmannsfamilie Rothberger, die bis 1938 an der prominenten Adresse Stephansplatz 9–11 eines der größten Warenhäuser von Wien betrieb. Er kam als zweiter Sohn von Ella Rothberger, geb. Burchardt (1878–1964), und Heinrich Rothberger (1868–1953) am 14. Oktober 1902 in Wien zur Welt.

Das Textilunternehmen Jacob Rothberger wurde 1858 gegründet und hatte ab 1861 seinen Standort im Haus Stephansplatz 9. Die Idee des Gründers Jacob Rothberger (1825–1899), eine „Kleiderschwemme“ einzurichten, erwies sich als erfolgreich und ließ den Familienbetrieb stetig wachsen. Der Kundschaft war es möglich, alte Kleider zurückzugeben und neue Textilien zu einem vergünstigten Preis einzukaufen. Dieses Kleidermagazin brachte Rothberger auch gesellschaftliche Anerkennung und Auszeichnungen ein (z. B. bei der Weltausstellung 1867 in Paris). Nach seinem Tod übernahmen seine Söhne Heinrich, Moritz (1865–1944) und Alfred Rothberger (1873–1932) die Leitung des Familienbetriebes und des Warenhauses.

Leben in Wien vor 1938

Gemeinsam mit Bruder Hans wuchs Fritz Rothberger in der elterlichen Wohnung in der Jasomirgottstraße 1 auf, die im hinteren Teil des Häuserkomplexes lag, der an der Vorderseite das Warenhaus Rothberger beherbergte. Im Alltag der großbürgerlichen Familie jüdischer Herkunft spielten religiöse Vorschriften kaum eine Rolle.

Entsprechend der Familientradition absolvierte Hans Rothberger eine Ausbildung zum Herrenschneider und Kaufmann und trat 1918 in das Familienunternehmen ein. Fritz Rothbergers Interessen lagen hingegen auf einem anderen Gebiet: Nach der Matura am Akademischen Gymnasium schrieb er sich 1921 an der Universität Wien ein und studierte im Hauptfach Mathematik und im Nebenfach Zoologie und Philosophie. 1926 reichte er seine Dissertation mit dem Titel „Über die topologische Charakterisierung des dreidimensionalen Raumes“ ein und promovierte 1927. Danach arbeitete er als freier Wissenschaftler in Wien. 1937 ging Rothberger nach Warschau, um dort auf dem Gebiet der kombinatorischen Mengenlehre zu forschen.

Verfolgung durch das NS-Regime

Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 wurde die Familie Rothberger verfolgt, beraubt und vertrieben. Um Druck auf die Familie auszuüben, wurde Hans Rothberger verhaftet und am 31. Mai 1938 als Schutzhäftling in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Im September 1938 verlegte man ihn nach Buchenwald, von wo er am 14. Februar 1939 nach Wien entlassen wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren der Textilbetrieb und ein Großteil der Liegenschaften am Stephansplatz bereits „arisiert“ und Teile von Heinrich Rothbergerswertvoller Porzellan- und Kunstsammlung in Berlin zwangsversteigert worden.

Hans Rothberger begann sofort, seine Flucht zu organisieren. Um einen Reisepass zu erhalten und auswandern zu können, musste er eine Zwangsabgabe („Reichsfluchtsteuer“) von rund 27.000 Reichsmark leisten – dies entspricht heute einem Wert von rund 185.000 Euro.

Flucht nach Großbritannien und Kuba

Hans Rothberger floh im Mai 1939 nach London, während seine Eltern vorerst in Wien blieben. Fritz Rothberger war nach dem „Anschluss“ nicht mehr nach Wien zurückgekehrt. Aus einem Lebenslauf (1942) geht hervor, dass er mit Hilfe der Society for the Protection of Science and Learning − einer 1933 gegründeten akademischen Vereinigung, die vom NS-Regime verfolgte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützte −, ein britisches Visum erhalten hatte. Er kam im Juni 1939 nach England und lebte einige Monate im Süden des Landes, bevor er nach Oxford zog und ab Januar 1940 in Cambridge lebte.

Ella und Heinrich Rothberger verließen Wien erst Anfang November 1941. Wie sie dem NS-Terror zu einem Zeitpunkt entkommen konnten, als Deportationen in Ghettos und Vernichtungslager bereits begonnen hatten, ist nicht bekannt. Ihre Flucht führte von Wien über Lissabon nach Kuba, wo sie Anfang 1942 eintrafen. Es scheint, dass sie von dort in die USA weiterreisen wollten, doch dieser Plan scheiterte am Kriegseintritt der USA im Dezember 1941. Deshalb musste das Ehepaar bis 1947 im tropischen Havanna ausharren.

Als „feindliche Ausländer“ in Großbritannien und Internierung in Kanada

Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg, und Personen aus dem Deutschen Reich wurden zu „feindlichen Ausländern“. Als im Zuge des deutschen Expansionskrieges im Frühjahr 1940 die Angst vor Saboteuren dramatisch zunahm, ordnete die britische Regierung im Mai 1940 eine Masseninternierung ausländischer Einwohnerinnen und Einwohner an. Dies betraf auch rund 27.000 NS-Flüchtlinge, darunter Fritz und Hans Rothberger.

Außerdem ließ die Churchill-Regierung Kriegsgefangene und „gefährliche feindliche Ausländer“ außer Landes nach Kanada und Australien bringen. Kanada war bereit, 3.000 Kriegsgefangene und 4.000 „gefährliche feindliche Ausländer“ aufzunehmen. Doch es stellte sich heraus, dass der britische Inlandsgeheimdienst ihre Zahl stark überschätzt hatte, weshalb man auch junge und unverheiratete Flüchtlinge auswählte, um die kanadische Quote auszunützen. Daher wurden im Juli 1940 absurderweise rund 2.000 deutschsprachige und italienische Flüchtlinge nach Kanada verschifft, unter ihnen auch die Brüder Rothberger.

Aus Erinnerungsberichten ist bekannt, dass Fritz Rothberger in der Lagerschule des Lagers B in New Brunswick, die gegründet wurde, damit die ganz jungen Flüchtlinge ihre Schulausbildung abschließen konnten, als Mathematiklehrer tätig war. Zudem beteiligte er sich an freiwilligen Arbeitsprogrammen in den Internierungslagern, z. B. als Holzfäller. Über Tätigkeiten seines Bruders im Lager ist hingegen nichts bekannt.

Nach langwierigen Verhandlungen zwischen kanadischen und britischen Behörden waren ab Herbst 1941 Entlassungen aus der Internierung möglich, z. B. wegen eines Studienplatzes oder einer (kriegswichtigen) Arbeitsstelle. Nach fast zweieinhalb Jahren wurde Hans Rothberger im Oktober 1942 aufgrund seines Berufes als Herrenschneider nach Montreal entlassen, um in einer Textilfirma zu arbeiten, die Uniformen für die kanadische Armee produzierte.

Die Lage von Fritz Rothberger war wesentlich schwieriger: Das Canadian National Committee on Refugees and Victims of Political Persecution (CNCR) kontaktierte mehrere kanadische Universitäten, doch trotz Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen lange erfolglos. Erst mit Hilfe einer Anschubfinanzierung durch mehrere Sponsoren wurde eine Anstellung als Mathematiklehrer an der Acadia University in Wolfville, Nova Scotia, möglich, wodurch Fritz Rothberger das Internierungslager im Juli 1943 endlich verlassen konnte.

Weiterleben in Kanada und Familienzusammenführung

1946 beantragten Fritz und Hans Rothberger die kanadische Staatsbürgerschaft (verliehen 1947) und die Aufnahme ihrer Eltern in Kanada. Im Verfahren auf Familienzusammenführung mussten die Brüder nachweisen, dass sie ihre Eltern finanziell unterstützen konnten und diese nicht dem Staat zur Last fallen würden. Nach neun Jahren Trennung durften Ella und Heinrich Rothberger, inzwischen 68 und 78 Jahre alt, im Mai 1947 von Kuba nach Kanada übersiedeln. Sie fanden in Montreal ein neues Zuhause, wo sie nach dem Verlust ihres gesamten Besitzes ein sehr bescheidenes Leben führten. Zwar wurden im Zuge eines Restitutionsverfahrens 1947/48 einige Objekte aus der geraubten Kunstsammlung an Heinrich Rothberger zurückgegeben, doch musste er diese aufgrund der finanziellen Situation verkaufen. Heinrich Rothberger verstarb 1953 und seine Frau Ella 1964. Über Hans Rothbergers weiteres Leben in Montreal ist wenig bekannt, er starb dort 1987 und wurde wie seine Eltern auf dem Baron de Hirsch Friedhof beigesetzt.

Karriere in der Mathematik in Kanada

Obwohl Fritz Rothberger bei der Entlassung aus dem Lager schon über 40 Jahre alt war, konnte er sich eine eindrucksvolle wissenschaftliche Karriere aufbauen: Er lehrte bis 1949 an der Acadia University, wechselte dann an die University of New Brunswick in Fredericton und war von 1955 bis 1966 Professor für Mathematik an der Université Laval in Quebec City. 1967 wurde er als ordentlicher Professor an die Universität Windsor in Ontario berufen. Als er 1970 in den Ruhestand trat, kehrte er nach Wolfville zurück und unterrichtete als Honorary Distinguished Professor noch bis 1981 mit großer Leidenschaft Mathematik an der Acadia University. Fritz Rothberger widmete seine Forschungen und Publikationen der kombinatorischen Mengenlehre. Die Bedeutung seiner Grundlagenarbeit wurde 1977 mit einem ihm zu Ehren veranstalteten Symposium an der University of Toronto gewürdigt.

Wie sein Bruder blieb auch Fritz Rothberger unverheiratet und sein Tod im Jahr 2000 im Alter von 97 Jahren bedeutete das Ende der direkten Linie der Nachkommen von Heinrich und Ella Rothberger im transatlantischen Exil.

Weitere Werke: On Families of Real Functions with a Denumerable Base, in: Annals of Mathematics, Second Series 45, 1944, H. 3, S. 397ff.; A Remark on the Existence of a Denumerable Base for a Family of Functions, in: Canadian journal of mathematics 4, 1952, S. 117ff.


Literatur: Nachruf Fritz Rothberger, in: New York Times, 6. 11. 2000 (Zugriff 18. 4. 2024); E. Koch, Deemed Suspect: A Wartime Blunder, 1980, S. 146ff.; Ch. Gschiel u. a., schneidern und sammeln: Die Wiener Familie Rothberger, 2010; A. Zangwill, The education of Walter Kohn and the creation of density functional theory, in: Archive for History of Exact Sciences 68, 2014, H. 6, S. 775ff.; J. Eisinger, Flight and Refuge: Reminiscences of a Motley Youth, 2016, S. 74; A. Strutz, Forced to flee and deemed suspect: Tracing life stories of interned refugees in Canada during and after the Second World War, in: Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives, ed. G. Anderl u. a., 2023, S. 229ff.; Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution, Akte Jakob Johann Rothberger, Karteikarte Konzentrationslager Dachau, Häftlingsuntersuchungsbogen (Zugriff 18. 4. 2024); Walter Kohn – Biographical, NobelPrize.org. (Zugriff 18. 4. 2024); Universitätsarchiv Wien.

(Andrea Strutz)