GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Gustav Kürti


geb. am 7. April 1903 in Wien, gest. am 11. Juli 1978 in Wien

Gustav Kürti war von 1931 bis 1938 als freier Mitarbeiter am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien tätig. Nach dem „Anschluss“ wurde er aus rassistischen Gründen verfolgt und konnte seine Tätigkeit an der Akademie nicht mehr fortsetzen. Er emigrierte 1938 nach England und anschließend in die USA.

Kürti wurde als Sohn des Gewerbetreibenden Armin Kohn (gest. 1916) und seiner Frau Rosa, geb. Schindler (gest. 1942 im Ghetto Theresienstadt), in Wien geboren. Er studierte ab 1921 Philosophie an der Universität Wien und nahm im dritten Semester die Studien der Mathematik und Physik auf. 1926 promovierte Kürti mit seiner Dissertation „Über die Reduktion ebener Parallelgitter und zugehörige Dirchletsche Nachbarschaftsfiguren in der Maßbestimmung OP = (|x|e+|y|e)1/e“, betreut von dem Mathematiker Philipp Furtwängler (1869–1940). Kürti, der seit 1922 Arbeiterinnen und Arbeiter an einer von ihm mitbegründeten Privatmittelschule unterrichtete, lehrte von 1927 bis 1938 als Bundesbeamter im Schuldienst die Fächer Mathematik und Naturlehre an mehreren Wiener Mittelschulen. Von 1931 bis 1938 forschte er als freier Mitarbeiter am Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien bei Karl Przibram. Kürti beschäftigte sich in Przibrams Forschungsgruppe mit Untersuchungen zu Verfärbungs- und Lumineszenzerscheinungen von Alkalihalogeniden. Im Almanach der Akademie für das Jahr 1938 scheint sein Name in der Liste der Personen auf, die „im Institute oder mit den Mitteln des Institutes“ arbeiteten. In Almanach für 1939 wird Kürti nicht mehr angeführt.

Im August 1938 emigrierte Gustav Kürti mit seiner zweiten Ehefrau Rosa, geb. Jahoda (1905–2004 Toronto) und seinem Sohn Anton (geb. 1935, Pianist und Komponist) nach Großbritannien. Rosa Jahoda, Schwester der Soziologin Marie Jahoda (1907–2001), hatte Botanik und Zoologie studiert und von 1929 bis 1931 an der Biologischen Versuchsanstalt (BVA) der Akademie gearbeitet. Da Kürti in England keine Beschäftigung fand, reiste er Mitte Oktober 1938 weiter in die USA, wo er und seine Familie 1944 eingebürgert wurden. Von Anfang 1939 bis Mitte 1941 arbeitete Kürti als Research Fellow in Physics an der University of Rochester (NY). Danach ging er – ausgestattet mit einem Research Associateship in Applied Nuclear Physics – an das Massachusetts Institute for Technology (MIT) in Cambridge (MA). Im Oktober 1942 wurde Kürti Assistent des in Lemberg geborenen Mathematikers Richard von Mises (1883–1953) und im Juli 1946 Assistenzprofessor für Aerodynamik an der Harvard University in Cambridge. Ab 1951 arbeitete er als Mathematiker und stellvertretender Abteilungsleiter am Naval Ordinance Laboratory bei Washington, D.C., bis er 1952 an das Case Institute of Technology der Case Western Reserve University in Cleveland (OH) berufen wurde. Hier emeritierte er im Jahr 1968 als Professor of Aerodynamics.

1960 erlitt Gustav Kürti einen schweren Schlaganfall. In den Jahren 1965, 1968 und 1969 hielt er Vorlesungen an den ostdeutschen Universitäten Halle an der Saale und Rostock. In dieser Zeit plante er nach Europa zurückzukehren und sich in der DDR niederzulassen. Nach Aufzeichnungen seines Sohnes brachten ihn sein angeschlagener gesundheitlicher Zustand und die politischen Ereignisse in der Tschechoslowakei wieder von diesem Vorhaben ab. Er verstarb während einer Europareise im Jahr 1978 in Wien.
 
Gustav Kürti, der in den Gebieten der angewandten Mathematik, der Aerodynamik, Hydrodynamik und theoretischen Mechanik forschte und lehrte, war Mitglied der American Physical Society, der American Mathematical Society, des American Institute of Aeronautics and Astronautics und der Mathematical Association of America. Die Case Western Reserve University, an der sich die hauptsächlich aus Publikationen bestehende Kuerti Collection befindet, verleiht für besondere Leistungen im Bereich Mechanical and Aerospace Engineering den Gustav Kuerti Award an Studierende.


Schriften (Auswahl)


  • Gustav Kürti, Über die Reduktion ebener Parallelgitter und zugehörige Dirchletsche Nachbarschaftsfiguren in der Maßbestimmung OP = (|x|e+|y|e)1/e, Dissertation, Universität Wien 1925.
  • Ders., Magnetorotation in verfärbtem Glas und Steinsalz, in: Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (= Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung 299a), Bd. 69, Wien 1932, 273.
  • Ders., Zur Verfärbung von Biotit durch Alpha-Strahlen, Wien 1938.
  • Richard von Mises – William Prager – Gustav Kuerti, Theory of Flight, New York 1945.
  • Klaus Oswatitsch – Gustav Kuerti (Übers.), Gas Dynamics, New York 1956.
  • Arnold Sommerfeld – Gustav Kuerti (Übers.), Mechanics of deformable Bodies, New York–London 1964.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Bestand Institut für Radiumforschung.
    • Archiv der Universität Wien, Phil. Rig. Akt 9064.
    • Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Matriken.
    • Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, University of Oxford (File 333/4).
    • Akademie der Wissenschaften in Wien, Almanach f. d. J. 1931–1939.
    • Daniela Angetter – Michael Martischnig, Biografien österreichischer PhysikerInnen. Eine Auswahl, Wien 2005, 70–71.
    • Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss, Bd. 2: The Arts, Sciences, and Literature, München [u.a.] 1983, 670–671.
    • Johannes Feichtinger, Transformationen der Forschungspolitik, in: Johannes Feichtinger – Herbert Matis – Stefan Sienell – Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, 117–126, hier: 122.
    • Anton Kuerti (Hg.), Gustav Kuerti. April 7, 1903–July 11, 1978, Toronto 1979.
    • Max Pinl – Lux Furtmüller, Mathematicians under Hitler, in: Leo Baeck Institute, Year Book 18, London 1973, 129–182, hier: 169.
    • Wolfgang L. Reiter, Österreichische Wissenschaftsemigration am Beispiel des Instituts für Radiumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft (= Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), Münster 22004, 709–729, hier: 722–723.
    • Maria Rentetzi, Gender and Radioactivity Research in Interwar Vienna: The Case of the Institute for Radium Research, in: Soňa Štrbáňová – Ida H. Stamhuis – Kateřina Mojsejová (Hg.), Women Scholars and Institutions. Proceedings of the International Conference (Prague, June 8–11, 2003) (= Práce z dějin vědy / Studies in the history of sciences and humanities 13 B), Prague 2004, 611–638, hier: 636.
    • Maria Rentetzi, Trafficking Materials and Gendered Experimental Practices. Radium Research in Early 20th Century Vienna, New York 2008, 127.
    • Reinhard Siegmund-Schultze, Mathematiker auf der Flucht vor Hitler. Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft (= Dokumente zur Geschichte der Mathematik 10), Braunschweig–Wiesbaden 1998, 16, 101, 295, 300.
    • Reinhard Siegmund-Schultze, Mathematicians Fleeing from Nazi Germany. Individual Fates and Global Impact, Princeton–Oxford 2009, 16, 101, 112–113, 281, 295, 300, 350.
    • Wolfgang L. Reiter, Naturwissenschaften und Remigration, in: Sandra Wiesinger-Stock – Erika Weinzierl – Konstantin Kaiser (Hg.), Vom Weggehen. Zum Exil von Kunst und Wissenschaft (= Exilforschung heute, Buchreihe der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung 1), [Wien] 2006, 177–218, hier: 185.
    • Wolfgang L. Reiter, Von Erdberg in die Boltzmanngasse – 100 Jahre Physik an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl – Gerd B. Müller – Thomas Olechowski – Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, 191–209, hier: 201.
    • Burton Singer, Gold Medal Award, in: Case alumnus. The Magazine of the Case Alumni Association 21, 3 (2009), R7.
    • John M. Spalek – Sandra H. Hawrylchak, Guide to the Archival Materials of the German-speaking Emigration to the United States after 1933 / Verzeichnis der Quellen und Materialien der deutschsprachigen Emigration in den USA seit 1933, Bd. 2, Bern 1992, 350.


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