18.09.2023

Was sagen Zwielaute und einfache Laute aus?

Jan Luttenberger, Projektmitarbeiter am Institut für Schallforschung und Dissertant an der Universität Wien hat als Koautor zusammen mit Philip Vergeiner, Lars Bülow, Dominik Wallner und David Britain eine phonetische Studie zur Verbreitung der sogenannten Wiener Monophthongierung in den deutschen Dialekten Ostösterreichs durchgeführt.

a) Farbige Darstellung der Durchschnittswerte der Maßzahl fμ. Rot bedeutet keine oder geringe Veränderung des Formantwertes über die Dauer des Vokals, Blau eine relativ große Veränderung. Im Inneren der Kreise ist F1, im Äußeren F2 dargestellt. Abbildung aus dem hier zitierten Artikel, Vergeiner et al., S. 932, Abb. 4.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird im Wiener Dialekt beobachtet, dass die Zwielaute (=Diphthonge) /aɛ / und /ɑɔ/ (geschrieben <ei> und <au>, z.B. in <Zeit> und <Haus>) als einfache Laute (=Monophthonge) [æː] und [ɒː] ausgesprochen werden. Solche Sprachwandelsprozesse sind für die Linguistik in zweierlei Hinsicht besonders interessant: Zum einen kann an ihnen beobachtet werden, ob sie alle Wörter in gleichem Maß betreffen oder ob es Ausnahmen gibt, die aus bestimmten Gründen nicht vom Wandel betroffen sind. Zum anderen stellt sich die Frage, ob ein Sprachwandel auf seinen Ursprungsort beschränkt bleibt oder sich in andere Dialekte ausbreitet. Aus der Sprachgeschichte ist bekannt, dass das Wienerische, das zu den ostmittelbairischen Dialekten gehört, die anderen ostmittelbairischen Dialekte in Niederösterreich, Oberösterreich, dem Burgenland und der Steiermark immer wieder stark beeinflusst hat: Dialektale Neuerungen, die ihren Ursprung in Wien haben, wurden nach und nach von den Sprechern und Sprecherinnen im Umland übernommen, insbesondere dort, wo es durch eine gute Verkehrsanbindung (etwa entlang der Donau oder der Südbahn) zu einem regen sprachlichen Austausch kam.

Im Rahmen des Spezialforschungsbereich „Deutsch in Österreich“ (https://www.dioe.at/) nahmen wir in zahlreichen ländlichen Orten Österreichs Sprecherinnen und Sprecher in den jeweiligen Basisdialekten auf, sodass wir eine solide Datengrundlage hatten, um die genaue Aussprache der beiden Zwielaute im Dialekt zu untersuchen. Da wir davon ausgingen, dass monophthongierte Formen am ehesten rund um Wien herum auftreten, wählten wir 17 Orte in Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, der Steiermark und dem Burgenland aus, wo wir bei jeweils 4 Sprechern 9 Wörter mit /aɛ̯/ und 9 Wörter mit /ɑɔ̯/ untersuchten. Vokale unterscheiden sich akustisch am deutlichsten durch bestimmte relativ laute Frequenzbereiche, die in der Phonetik als Formanten bezeichnet werden. Bei einer Aussprache als Zwielaut sollten sich die ersten beiden dieser Formanten über die Dauer des Vokals ändern, bei monophthongierter Aussprache jedoch gleich bleiben. Die Abbildung b) zeigt Beispiele dafür, wie diese Formantverläufe im Einzelnen aussehen können. Zur einfacheren Vergleichbarkeit bezifferten wir diese Veränderung durch eine Maßzahl, die sich aus der normalisierten Differenz zwischen den Formantwerten zu Beginn und zum Ende der Vokaldauer errechnet. Diese Maßzahl ist als fμ in Abbildung a) farblich eingetragen: Rot sind Orte, in denen überwiegend monophthongiert wird, blau sind Orte, in denen Zwielaute gesprochen werden.

Aus der Karte a) ist schnell ersichtlich, dass tatsächlich die Nähe zu Wien eine große Rolle spielen dürfte: In Niederösterreich und im oberösterreichischen Zentralraum sind überwiegend die Wienerisch anmutenden monophthongierten Formen zu finden, weiter entfernt sind Diphthonge zu hören. Doch auch regionale Sonderformen, die in der Literatur beschrieben werden, konnten wir wiederfinden: Im burgenländischen Apetlon klingt das <ei> sehr offen, in Lasern im Salzkammergut klingt das <au> im zweiten Teil eher wie ein <ö>. Insgesamt konnten wir mit dieser Studie zeigen, dass der dialektale Sprachgebrauch in Wien nach wie vor einen großen Einfluss auf die Dialekte in Nieder- und Oberösterreich ausübt.

Vergeiner, Philip C.; Luttenberger, Jan; Bülow, Lars; Wallner, Dominik and Britain, David: "Revisiting areal and lexical diffusion: the case of Viennese Monophthongization in Austria’s traditional dialects" in: Linguistics, vol. 61, no. 4, 2023, pp. 915-957. https://doi.org/10.1515/ling-2021-0105