17 Kapitel für mehr Klarheit im Zuwanderungsdiskurs

Österreich hat eine lange Geschichte der Zuwanderung, dennoch sind Vorbehalte und Stereotype gegenüber Zuwanderern weit verbreitet. Ein neuer Sammelband aus dem Verlag der ÖAW überprüft gängige Mythen in der aktuellen Migrationsdebatte anhand wissenschaftlicher Fakten.

Flucht und Migration bestimmen spätestens seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 den politischen, medialen und gesellschaftlichen Diskurs. Längst ist eine anfängliche Willkommenskultur Ressentiments, Stereotypen und Ausländerfeindlichkeit gewichen. Nicht selten ist dabei von angeblich weggeschnappten Jobs, hoher Kriminalität und Sozialschmarotzertum die Rede. Im neuen Sammelband „Migration und Integration. Fakten oder Mythen?“, erschienen im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und herausgegeben vom Soziologen Max Haller, kommen 17 Forscher/innen zu Wort, die gängige Behauptungen in der Migrationsdebatte wissenschaftlich untersucht haben. Wir stellen fünf solcher Mythen auf den Prüfstand.


„Die meisten Migranten sind Wirtschaftsflüchtlinge“

Zwar ist im politischen Diskurs häufig von Wirtschaftsflüchtlingen die Rede, im Asylrecht kommt diese Kategorie allerdings nicht vor. „Die Bezeichnung wird häufig in einem abwertenden Kontext verwendet und impliziert, dass jemand keinen Asylgrund geltend machen kann und deshalb kein Recht hat zu bleiben“, erklärt Laura Wiesböck, Soziologin an der Universität Wien. Das sei aber nicht haltbar, wie ihre Studie ergab. Tatsächlich bezeichnen nur 12 Prozent von 957 in einer Studie befragten Flüchtlingen die „allgemeine wirtschaftliche Situation im Land“ als Fluchtgrund. Vielmehr gelte umgekehrt, so Wiesböck, dass mit Krieg, Konflikten und politischer Verfolgung sehr oft auch wirtschaftliche Not einhergeht. 

Die meisten ausländischen Staatsangehörigen in Österreich stammen übrigens aus Deutschland, gefolgt von Serbien und der Türkei. „Bei Deutschen würde keiner von Wirtschaftsflüchtlingen sprechen, aus den anderen zwei Herkunftsländern wurden in der Vergangenheit jahrelang gezielt Arbeiter/innen angeworben“, sagt Wiesböck. Wie die Statistik zeigt, machen sie den Großteil der Zugewanderten in Österreich aus. Wiesböck: „Die meisten Migrant/innen sind keine Flüchtlinge, und schon gar keine Wirtschaftsflüchtlinge, sondern kommen aus dem Nachbarland oder sind Menschen, die nach Österreich eingeladen worden sind.“


„Ausländer bekennen sich nicht zu Werten“
 

Probleme auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt werden zunehmend mit Wertekonflikten erklärt, mitunter ist sogar von „Parallelgesellschaften“ die Rede. Hilde Weiss, Soziologin an der Universität Wien, verglich mehrere sozialwissenschaftliche Erhebungen über Wertehaltungen muslimischer Zugewanderter in Österreich. Das Ergebnis: Unabhängig von ihrer Herkunft schätzen mehr als 90 Prozent der befragten muslimischen Bosnier/innen und Türk/innen das Leben in einer Demokratie. Auch die Institutionen und „Spielregeln“ der Demokratie werden anerkannt. Hinsichtlich der Zustimmung autoritärer Tendenzen – 12 bis 14 Prozent wünschen sich einen „starken Mann“ – unterschieden sich diese Gruppen nicht von autochthonen Österreicher/innen.

Zwiespältigere Ansichten gibt es allerdings bei der Frage, ob sich religiöse Führer auch in den politischen Diskurs einmischen sollen. Ein Viertel der Befragten wünscht sich, dass der Islam eine tragende Rolle im Alltagsleben spielen soll. Strafen nach islamischem Recht, etwa schwere körperliche Bestrafungen, unterstützen hingegen nur acht Prozent der Befragten, also eine Minderheit.  

Wenn es um die Mitarbeit im Haushalt geht, lässt sich eine Annäherung der Geschlechter beobachten, besonders in der zweiten Generation von Zugewanderten. Unterschiede gibt es hingegen in Sachen Sexualmoral: Etwa die Hälfte der Befragten Muslim/innen lehnt uneheliche Partnerschaften ab. Homosexualität wird zwar mehrheitlich akzeptiert, aber keineswegs unter allen Befragten. Dennoch: „Insgesamt ist die junge Generation deutlich aufgeschlossener als die ihrer Eltern“, sagt Weiss. Ihr Fazit: „Zugezogene bekennen sich mehrheitlich durchaus zu den Werten, die in Österreich vertreten werden.“


„Die Politik unterstützt Zugewanderte mehr als Einheimische“

Johannes Berger und Ludwig Strohner vom Forschungsinstitut EcoAustria stimmen dem nicht zu: Bezogen auf öffentliche Finanzen – also Steuereinnahmen versus Ausgaben u.a. in Form von Sozialleistungen wie Pensionen, Familienbeihilfe, Mindestsicherung etc. – unterstützt die Politik Zugewanderte nicht mehr als Einheimische. Sie differenzieren dabei zwischen Migration aus der EU, Migration von Asylwerbenden und Drittstaatenbürgern.

„Höhere anfängliche Unterstützung von zugezogenen Flüchtlingen ist nicht in vorteilhafteren individuellen Ansprüchen begründet, sondern eine Folge der negativen Arbeitsmarktsituation“, sagt Berger. „Bis zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt und der Schaffung eines stabilen sozialen Umfeldes dauert es eine gewisse Zeit, in der Geflüchtete naturgemäß mehr Unterstützung benötigen.“

Weil die Zugezogenen in allen Migrationsgruppen überwiegend sehr jung sind, wirken sie sich aber positiv auf die österreichische Altersstruktur aus. So macht die Gruppe der 20 bis 34-Jährigen mit einem Plus von 225.000 Personen zwischen 2013 und 2018 fast die Hälfte der Zugezogenen aus. Für die Finanzierung von Pensionen sei diese Altersstruktur für Österreich von Vorteil, erklärt Berger: „Je besser die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt, desto positiver sind die Auswirkungen von Migration auf die öffentlichen Finanzen“.


 „Zuwanderung erhöht die Kriminalität“
 

Die Zahl der Anzeigen („Kriminalitätsrate“) in Österreich ist in den letzten 15 Jahren deutlich zurückgegangen, von 73 Anzeigen pro 1.000 Einwohner im Jahr 2002 auf 61 Anzeigen pro 1.000 im Jahr 2016, erklären Walter Fuchs und Arno Pilgram vom Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS). Insbesondere die Kriminalitätsraten in den Jahren 2015 und 2016, also während der sogenannten „Flüchtlingskrise“, waren die niedrigsten in diesem Zeitraum – dies gilt auch bei gesonderter Betrachtung der Hauptstadt Wien.

Zwar hat sich in diesem Zeitraum die Summe der ausländischen Tatverdächtigen auf 106.000 verdoppelt, womit ihr Anteil an allen verdächtigen Personen 39 Prozent ausmacht. Im selben Zeitraum ist allerdings auch die ausländische Wohnpopulation stark gestiegen, sodass die Tatverdächtigenrate des Bevölkerungsteils ohne österreichischen Pass im Wesentlichen gleich geblieben ist, wie eine Auswertung des IRKS ergibt.

Berücksichtigt man Faktoren wie Bildung, Haushaltseinkommen und Arbeitslosigkeit, so stellt sich überdies heraus, dass Ausländer nicht krimineller sind als Österreicher in vergleichbarer Lebenssituation. Eine etwaige höhere kriminelle Aktivität liegt also nicht an einer ausländischen Herkunft und dazugehörigen Einstellungen begründet, sondern in den persönlichen Lebensumständen, die unter den Gesichtspunkten von ökonomischem und kulturellem Kapital bei Migrant/innen mehrheitlich prekärer sind als in der Durchschnittsbevölkerung.

„Was oft übersehen wird: Eine Zunahme an angezeigten Verbrechen kann übrigens auch ein paradoxer Integrationsindikator sein“, betont Kriminalsoziologe Fuchs. Nämlich dann, wenn früher unter den Tisch gekehrte Delikte, etwa Gewalt in patriarchalen Familien, erstmals problematisiert werden. „Die Kriminalitätsstatistik geht dann klarerweise nach oben, dennoch ist diese Entwicklung durchaus positiv“, so der Experte. 


„In manchen Bezirken sind Österreicher bereits in der Minderheit“

Stimmt nicht, sagt die Soziologin Christina Schwarzl anhand von Daten der Statistik Austria. Von 8,77 Mio. Einwohnern haben 1,34 Mio., also 15 Prozent, eine andere als die österreichische Staatsbürgerschaft. Generell steigt der Anteil an Migrant/innen mit dem Grad der Urbanisierung an, weshalb die Verteilung von migrantischen Haushalten innerhalb Österreichs ungleich ausfällt.

Wie Schwarzls Auswertung zeigt, spiegelt die räumliche Konzentration von migrantischen Haushalten die geringe Wahlmöglichkeit wider, die Zugewanderte bei Wohnungen und Wohnlagen haben. Denn aufgrund der schlechten Einkommenssituation sind sie auf preisgünstige Wohnangebote angewiesen. Besonders in Wien ist der Anteil an Mietwohnungen in preisgünstigen Wohnlagen hoch. Die Attraktivität in der Bundeshauptstadt zu leben, wird durch die gut ausgebaute Infrastruktur (auch jener der eigenen migrantischen Community) sowie vielfältiger Arbeitschancen zusätzlich erhöht.

„Im internationalen Vergleich steht Österreich in Sachen Segregation und leistbarem Wohnraum dennoch überdurchschnittlich gut da“, sagt Schwarzl. Einerseits, weil die Einkommensschere zwischen Armen und Reichen verglichen mit anderen Ländern noch relativ klein ist, aber auch weil viele Kommunen in leistbares Wohnen investieren. „Ein eigenes Haus im Grünen bleibt dennoch wohlhabenderen Bevölkerungsschichten und damit vorwiegend Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft vorbehalten“, so die Wissenschaftlerin.

Die Behauptung, dass Österreicher in der Minderheit seien, kann sie für alle politischen Bezirke Österreichs widerlegen. Nur innerhalb Wiens findet sich eine starke räumliche Verdichtung von Haushalten mit niedrigem Einkommen und somit von Zugewanderten. So macht laut Statistik Austria in Rudolfsheim-Fünfhaus der Anteil von Personen, die nicht in Österreich geboren wurden, 48 Prozent aus. Will man eine bessere soziale Durchmischung, so Schwarzl, muss man für mehr leistbaren Wohnraum sorgen.


INFORMATION

Das Buch „Migration und Integration. Fakten oder Mythen?“ ist im Verlag der ÖAW erschienen und versammelt 27 Autor/innen von Universitäten und Forschungseinrichtungen aus ganz Österreich. Der Sammelband wurde herausgegeben von Max Haller, Mitglied der ÖAW und Soziologie an der Universität Graz.

Die Präsentation des Buchs findet am 7. März 2019 um 18:00 Uhr in der Buchhandlung Orlando (Liechtensteinstraße 17, 1090 Wien) statt.

Buchpräsentation

Das Buch im Verlag der ÖAW