02.07.2021 | Seuchengeschichte

Was Corona-Göttinnen und alte Knochen miteinander verbindet

Welche Spuren Seuchen und Plagen bei Menschen in vormodernen Zeiten hinterlassen haben, darüber können jahrtausendealte Knochen ebenso wie religiöse Inschriften und kulturelle Praktiken Auskunft geben. Während SARS-CoV-2 weiter mutierend über den Globus wandert, reisen Natur- wie Geisteswissenschaftler/innen der ÖAW immer weiter zurück in die Geschichte – und gewinnen neue Erkenntnisse über vergangene Pandemien.

ÖAW-Bioarchäologin Magdalena Srienc untersucht tausende Jahre alte menschliche Knochen, um den Ursprüngen von Seuchen in der Geschichte auf die Spur zu kommen. © ÖAW/Klaus Pichler

Es ist keine aktuelle Krankenakte, die von Tuberkulose berichtet. Der Mensch an dem Magdalena Srienc handfeste Spuren der Infektionskrankheit diagnostiziert, ist seit tausenden Jahren tot. Die Bioarchäologin, die bei Ausgrabungen in Ägypten, im Sudan wie auch im Süden Kärntens mitwirkt, forscht am Österreichischen Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Dort gibt es ein Human-Osteologisches Labor, in dem sich Srienc ihrem Spezialgebiet widmet, der Paläopathologie, oder – einfacher ausgedrückt – der Erforschung alter Krankheiten. Ihr Forschungsobjekt ist das Wenige, was von einem Menschen nach Jahrhunderten noch bleibt: Überreste von Knochen.

In den vergangenen Jahren hat die archäologische Forschung große Fortschritte bei der Identifizierung von Pandemien in früheren Zeiten gemacht, erzählt Srienc. Ähnlich wie bei Lepra und Syphilis kann man auch bei Tuberkulose Jahrtausende später im Labor die Veränderungen am Skelett der Erkrankten feststellen. Diese durch Bakterien übertragenen Infektionskrankheiten hinterlassen Spuren auf Wirbeln, Rippen und Schienbeinen.

Zudem sind bei diesen ansteckenden Krankheiten die Erreger derart widerstandsfähig, dass auch in den Knochenüberresten etwas steckt, das für die Forschung interessant ist: ancient DNA, altes Erbgut. „Das ist die beste Kombination, um das Vorhandensein von Tuberkulose zu bestimmen: die makroskopische Analyse einerseits, die wir im Labor durchführen, indem wir Veränderungen am Knochen aufzeichnen, und die DNA-Analyse der Erreger andererseits“, so die ÖAW-Forscherin.

Zoonosen traten vermehrt im Neolithikum auf

Warum alte Krankheiten Erkenntnisse für die Gegenwart liefern können? „Wir können damit feststellen, welche Umgebung und welche Lebensbedingungen damals für das Auftreten von Krankheiten verantwortlich waren“, sagt Srienc. Viele Krankheiten sind auf das Leben in enger Nachbarschaft mit Tieren zurückzuführen. Sie entstanden und verbreiteten sich in der Jungsteinzeit, also im Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu sesshaften Bauernkulturen, als die Menschen damit begannen Tiere zu domestizieren.

So wird ein Stamm der Tuberkulose mit Rindern in Verbindung gebracht. Das Masernvirus hat vermutlich seinen Ursprung in einem Erreger, der Rinderpest verursacht. Und die tödliche Pockenkrankheit stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Virus ab, das auch Kuhpocken auslöst. Anders bei der Pest: Sie wurde nicht durch domestizierte Haustiere, sondern durch Ratten und andere Nagetiere im Mittelalter auf Flöhe und Menschen übertragen. Und auf der Suche nach den Ursprüngen des neuartigen Pandemieerregers SARS-CoV-2 werden nach derzeitigem Kenntnisstand laut WHO am wahrscheinlichsten Fledermäuse als Zwischenwirte angenommen.

Gürteltiere, Seelöwen und Robben als Überträger

Zoonosen müssen aber nicht immer lebensbedrohliche Krankheiten sein, fasst die Bioarchäologin zusammen. Sie können auch durch Parasiten ausgelöst werden, wie zum Beispiel Magen-Darm-Infektionen. „Wenn wir bei Ausgrabungen oder in archäologischem Material bestimmte Parasiten finden, können wir jede Menge Annahmen zur Art der Interaktion machen, die Menschen mit bestimmten Tierarten hatten“, sagt Srienc.

Neuere Studien zu ancient DNA geben Hinweise darauf, dass eine Art von Seelöwen und Robben möglicherweise vor rund tausend Jahren in Südamerika Überträger von Tuberkulose war. Robben wurden etwa wegen ihres Fleisches gejagt. Bekannt ist auch der Zusammenhang zwischen Gürteltieren und der Ausbreitung von Lepra. Schließlich sind sie sind die einzigen Tiere, die die infektiösen Bakterien in sich tragen. Im südlichen Teil der USA ist etwa 40 Prozent der Gürteltierpopulationen an Lepra erkrankt. Alleine durch die Interaktion mit bestimmten Tierarten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung mit deren Krankheiten. Das hat auch das Auftreten des Coronavirus gezeigt“, ist die Wissenschaftlerin überzeugt.

Göttlicher Beistand bei Seuchen und Pandemien

Dass sich eine Epidemie nie allein auf gesundheitliche Aspekte reduzieren lässt, sondern Einfluss auf alle Bereiche der Gesellschaft hat, das belegen religiöse Darstellungen von der Antike bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Seuchen wurden als Zeichen der Götter verstanden. Wann immer Krankheiten und Plagen über ein Land hereinbrachen, versuchten die Menschen mit Gebeten und Opfergaben, die jeweiligen Gottheiten zu besänftigen.

Im südasiatischen Raum werden vor allem weibliche Gottheiten mit Seuchen und Todesfällen assoziiert. Diese religiöse Praxis zieht sich seit Anfang des ersten Millenniums bis zur Gegenwart, erzählt Nina Mirnig. Sie ist Indologin am Institut für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der ÖAW, forscht zur Sanskritkultur in Südasien und ist seit 2020 Mitglied der Jungen Akademie.

Kinder fressende Hindu-Göttinnen werden liebevoll

„Die frühesten Skulpturen von Hārīti, einer buddhistischen Göttin, die mit Fieber, Krankheiten und auch Kindestod in Verbindung gebracht wird, sind in etwa zeitgleich mit der Antoninischen Pest, einer der ersten Seuchen im Römischen Reich im Jahr 165, aufgetaucht“, sagt Mirnig. Ursprünglich wurde Hārīti als früh-indische dämonische Figur gefürchtet, die auch Kinder fraß. Später sollte ihre Verehrung als Muttergöttin bewirken, dass sie kranke Kinder heilt. „Ikonographisch verwandeln sich oft sehr wilde Gottheiten über die Jahrhunderte in liebevolle, schützende Göttinnen“, so die Indologin.

Eine ähnliche Wandlung hat auch die Göttin Śītalā durchgemacht, die zur Götterwelt des Shivaismus zählt und auch als Pocken-Göttin der Hindus bezeichnet wird: Während sie heute als "kühlende" Göttin verehrt wird, die Fieber zu kühlen vermag, wurde sie zuvor gefürchtet, weil sie Kinder stehlen, essen oder krank machen würde. Über die Verehrung konnte man die gefährliche Göttin aber besänftigen, so der Volksglaube. Das gilt auch für Parṇaśavarī, eine hinduistische Gottheit, die als buddhistische Gottheit der Krankheiten angenommen wurde und deren Verehrung vor dem Ausbruch von Epidemien schützen soll.

Neue Göttin der Gegenwart: Mutter Corona

„In einem kosmischen Geschichtsverständnis voller Mythen und alter Gottheiten werden kulturelle Praktiken in Südasien weniger durch historiographische Quellen vermittelt, wie wir sie aus Japan oder China kennen, sondern meist über religiöse Narrative in Texten, die von Angehörigen der damals gesellschaftlich dominanten Kaste der Brahmanen verfasst wurden“, erklärt Mirnig. Das ist auch einer der Gründe, warum es zu den Göttinnen, die meist den Volkstraditionen entsprangen, wenig schriftliche Zeugnisse gibt. Sie werden erst ab dem 5./6. Jhdt. vermehrt in den normativen Quellen, vor allem den heiligen Schriften der Purāṇas, erwähnt. Mirnig: „Im Zuge der Sanskritisierung werden viele lokale Göttinnen im frühen Mittelalter mit den hinduistischen Göttinnen identifiziert und als Teil der größeren brahmanischen Götterwelt klassifiziert.“

Und auch heute noch wird eine Krise wie die gegenwärtige mancherorts als Zeichen der Götter – oder genauer: der Göttinnen – verstanden. Gegenwärtig beten im Nordosten und Süden Indiens die Menschen zu einer neuen Göttin mit Namen Corona Mata, Mutter Corona. Sie bauen ihr Schreine, bringen ihr Opfergaben und bitten sie, dass die Pandemie wieder weggehen möge.

 

AUF EINEN BLICK

Magdalena Srienc studierte Museologie und Kulturanthropologie am University College Utrecht sowie in Bioarchäologie und Naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Warschau. Seit 2015 war sie als Archäologin und Osteologin an Forschungsprojekten in Polen, Bulgarien, Ägypten und Sudan beteiligt. Seit 2018 ist sie Laborleiterin am Österreichischen Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Nina Mirnig studierte Orientalistik/Sanskrit an der Oxford University. Sie war als Postdoc am Institute for Indian Studies an der Universität Groningen, Gonda Fellow am International Institute for Asian Studies in Leiden und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Cambridge University. Seit 2015 forscht sie am Institut für die Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2020 wurde sie zum Mitglied der Jungen Akademie der ÖAW gewählt.