28.12.2021 | Impfpflicht-Debatte

Unbegrenzte Freiheit gibt es nicht

In der aktuellen Impfdebatte geht es viel um die Frage der Freiheit, die das Individuum für sich in Anspruch nehmen kann. Der Rechtshistoriker Thomas Olechowski und der Theologe Ulrich Körtner diskutieren über die Impfpflicht, wie der Abbau des Wohlfahrtsstaates mit dem Aufstieg der Ich-AGs zusammenhängt, und wie man den Gemeinschaftssinn wieder stärken könnte.

Ab 1. Februar 2022 soll in Österreich eine Impfpflicht zur Eindämmung des Coronavirus gelten. © Shutterstock
Ab 1. Februar 2022 soll in Österreich eine Impfpflicht zur Eindämmung des Coronavirus gelten. © Shutterstock

Individuelle Freiheit ist ein zentraler Begriff in der Argumentation der Impfgegner/innen. Aber wie ist der Begriff überhaupt rechtlich definiert? Welche ethischen Implikationen trägt er in sich? Und warum wird in vielen Diskussionen nicht zwischen Impfzwang und Impfpflicht unterschieden? Darüber diskutieren der Rechtshistoriker Thomas Olechowski, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Medizinethiker Ulrich Körtner, Träger des Wilhelm Hartel-Preises der ÖAW.

Freiheit entsteht im Dialog

Wie ist der Freiheitsbegriff in der Verfassung geregelt?

Thomas Olechowski: Das österreichische Recht kennt keine unbegrenzte Freiheit. Die Republik hat eine rechtliche Ordnung, an die sich alle halten müssen. Diese Ordnung gewährt Freiheitsrechte, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Wenn man nicht die gesamte Rechtsordnung in Frage stellen möchte, gibt es für uns also nur begrenzte Freiheiten.

Die Republik hat eine rechtliche Ordnung, an die sich alle halten müssen. Diese Ordnung gewährt Freiheitsrechte, aber nur unter bestimmten Bedingungen.

Wie sieht es aus ethischer Perspektive aus?

Ulrich Körtner: Wir sind von Geburt an Gemeinschaftswesen, Freiheit hätte keinen Bestand, wenn ich nicht mit Respekt vor den anderen leben würde. Man hat das in der Philosophie kommunikative Freiheit genannt. Freiheit ist immer nur im Dialog mit anderen zu sehen. Sozialwissenschaftlich betrachtet, hat sich das Freiheitsverständnis in den letzten Jahrzehnten allerdings grundlegend verändert. In den 1970er-Jahren fand eine Zäsur statt, man forderte die grenzenlose Freiheit des Individuums. Zuvor war man stärker in Konventionen eingeordnet, der Gedanke des Gemeinwesens war präsenter.

Entsolidarisierung

Wodurch kam es zu diesen Ich-AGs, wie man heute sagen würde?

Körtner: Der Abbau des Wohlfahrtsstaates unter neoliberalen Politiker/innen wie Margaret Thatcher, Tony Blair oder Gerhard Schröder ging einher mit der Stärkung des Individuums. Jeder war plötzlich selbst für sein Glück verantwortlich, es wurde weniger auf die Solidargemeinschaft gesetzt. Der Staat wurde zunehmend ausgehöhlt. Die Corona-Pandemie ist ein Brennpunkt, in dem diese gesellschaftlichen Veränderungen noch einmal deutlich werden. Man könnte ja auch sagen, wenn sich der Staat vorher immer mehr zurückgezogen hat, wie kommt er jetzt dazu, mir wieder Vorschriften zu machen.

Wie könnte man dieser Entwicklung entgegenwirken?

Körtner: Wir sollten ein neues, nicht angestaubtes Verhältnis von Gemeinsinn entwickeln.  Die Frage ist, welche Rolle dabei der Begriff der Pflicht spielt, der mittlerweile einen sehr negativen Beiklang hat. In der aktuellen Debatte werden Begriffe wie Impfzwang und Impfpflicht ja synonym verwendet.

Wir sollten ein neues, nicht angestaubtes Verhältnis von Gemeinsinn entwickeln. 

Olechowski: Impfzwang würde ja bedeuten, dass mir mit körperlicher Gewalt eine Spritze in den Arm getrieben wird. Aber das muss man definitiv ausschließen. Der Verfassungsgerichtshof hat im März 2021 erkannt, dass das Epidemiengesetz keinen derartigen Impfzwang vorsieht. Es gibt Geldstrafen, aber im nun vorliegenden Gesetzesentwurf zur Impfpflicht nicht einmal Haftstrafen. Ich gebe meinem Kollegen völlig recht: Wir erleben gerade den Gipfelpunkt einer Entwicklung, die sich seit Jahrzehnten angebahnt hat. Wir haben die radikale Entsolidarisierung, die stattgefunden hat, in dieser Schärfe nicht richtig erkannt.

Führt Impfpflicht zu Schadenersatzforderungen?

Am Anfang der Pandemie gab es einen großen Wunsch nach Solidarität.

Olechowski: Es muss gelingen, solche Ansätze wieder zu fördern. Ich glaube, der Wunsch nach Gemeinschaft ist tief im Menschen verwurzelt. Ein Ethikunterricht in der Schule wäre wichtig.

Mit der Impfpflicht tritt eine Rechtsvorschrift an die Stelle von moralischem Druck und Impfskeptiker/innen verlieren nicht länger ihr Gesicht gegenüber Gleichgesinnten, wenn sie sich am Ende doch impfen lassen.

Körtner: Das Maximum an Individualismus funktioniert ja nur, weil wir einen gut ausgebauten Sozialstaat haben. Ich kann Extremsport betreiben, wenn ich davon ausgehe, dass mich der Hubschrauber im Notfall rettet. Dass auch in einer Wohlstandsgesellschaft wie unserer Knappheit an Krankenbetten herrscht, wollen die Leute nicht hören. Aber ich bin auch dagegen, Debatten moralisch aufzuladen. Das befriedet Konflikte nicht, sondern befeuert sie und fördert ein Freund-Feind-Denken. Ich hoffe, die Impfpflicht bringt diesbezüglich eine Entschärfung, weil eine Rechtsvorschrift an die Stelle von moralischem Druck tritt und Impfskeptiker/innen nicht länger ihr Gesicht gegenüber Gleichgesinnten verlieren, wenn sie sich am Ende doch impfen lassen.

Olechowski: Ich bin da weniger zuversichtlich und fürchte, dass wir alle sechs Monate Booster brauchen, und dann die Diskussion immer wieder von vorne losgeht. Ein interessanter rechtlicher Aspekt, der durch eine Impfpflicht entsteht, sind Schadenersatzforderungen. Da sehe ich eine Lawine an Prozessen auf uns zukommen, von Menschen, die von nichtgeimpften Menschen angesteckt und dadurch berufsunfähig werden. Vielleicht werden diese Prozesse sogar einen stärkeren Druck ausüben als Verwaltungsstrafen. 

 

AUF EINEN BLICK

Thomas Olechowski ist Universitätsprofessor am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien. Er ist seit 2013 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Obmann der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der ÖAW.

Ulrich Körtner ist seit 2001 Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien. 2016 wurde er mit dem Wilhelm-Hartel-Preis der ÖAW für seine fächerübergreifende Forschungstätigkeit im Bereich Theologie, Medizin- und Bioethik ausgezeichnet.