30.03.2020 | Diversity im Gesundheitswesen

Medizin kennt viele Sprachen

Migration verändert das österreichische Gesundheitswesen und das etablierte Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Die Soziologin Afsaneh Gächter erklärt, was aus Sicht transkultureller Medizin zu beachten ist und warum Mediziner/innen sich auch im eigenen Interesse für kulturelle Fragen interessieren sollten.

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Unsere Gesellschaften werden immer diverser. Was in vielen Fällen bereichernd ist, kann im medizinischen Bereich aber auch zu Herausforderungen führen. Denn: „15 Prozent der hier lebenden Menschen haben eine Migrationsgeschichte, das heißt, sie bringen eine andere medizinische Sozialisation und andere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit mit“, sagt die Soziologin und Medizinhistorikerin Afsaneh Gächter.

Sie forscht in der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und befasst sich mit transkulturellen Aspekten in der Medizin. Warum die Berücksichtigung kultureller Diversität in diesem Bereich wichtig ist, was Mediziner/innen von den „Medical Humanities“ lernen können und welche Rolle kulturelle Sensibilität in der gegenwärtigen Coronavirus-Krise spielt, erklärt Gächter im Interview.

Mit der Coronavirus-Pandemie erleben wir gerade gesellschaftlich und medizinisch krisenhafte Zeiten – was ist nun aus der Perspektive einer transkulturellen Medizin dringend zu beachten?

Afsaneh Gächter: Eine transkulturell ausgerichtete Medizin berücksichtigt, dass wir heute in einer kulturell und somit auch sprachlich sehr diversen Gesellschaft leben. Diese Heterogenität der Sprachen und Kulturen sollte bei allen Maßnahmen, die die Bundesregierung aktuell ergreift, mitbedacht werden.

Eine transkulturell ausgerichtete Medizin berücksichtigt, dass wir heute in einer kulturell und somit auch sprachlich sehr diversen Gesellschaft leben.

Welche Schritte zur besseren Kommunikation der gegenwärtigen Coronavirus-Krise würden Sie der Bundesregierung vorschlagen?

Gächter: Um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu erhöhen, würde ich den zuständigen Behörden und Institutionen raten, alle notwendigen Informationen in unterschiedlichen Sprachen zu veröffentlichen. Nur so können wir alle Menschen erreichen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Ein weiterer Schritt wäre, nicht nur an Übersetzungen zu denken, sondern auch bei der Art und Weise, in denen Informationen kommuniziert werden, anzusetzen und kultursensibler vorzugehen. Alle sollen sich angesprochen fühlen.

Zeigt nicht gerade auch das Coronavirus die Notwendigkeit transkultureller Medizin, etwa im Sinne länderübergreifender Maßnahmen?

Gächter: Eine Pandemie ist leider kein neues Phänomen, schon die Cholera-Epidemie im 19. Jahrhundert hat weltweit Gesellschaften fundamental verändert. Vor 150 Jahren konnten Sie in Wien vor lauter Gestank nicht spazieren gehen; man nahm zuerst an, dass die schlechte Luft die Krankheit übertrage. Schließlich kam man über bakteriologische Untersuchungen der Ursache auf die Spur und es wurden viele sanitäre, hygienische und städtebauliche Maßnahmen ergriffen. Heute lernen wir, uns richtig die Hände zu waschen und wir merken: Egal wo ein Virus oder Bakterium entsteht, es ist die ganze Menschheit betroffen. Wir sind immer in Bewegung und Krankheiten auch, sie sind genauso transkulturell wie wir.

Egal wo ein Virus oder Bakterium entsteht, es ist die ganze Menschheit betroffen. Wir sind immer in Bewegung und Krankheiten auch, sie sind genauso transkulturell wie wir.

Sie hatten eine Tagung, „Medical Humanities und transkulturelle Prägungen im Gesundheitswesen“, an der ÖAW geplant, die aufgrund der aktuellen Situation verschoben werden musste. Erklären Sie uns vorab was „Medical Humanities“ eigentlich bedeutet?

Gächter: Der Begriff entstand bereits in den 1980er-Jahren in den USA und im angelsächsischen Raum und er bezieht sich einerseits auf medizinische Aspekte in den Geisteswissenschaften, also etwa in der Anthropologie, der Literatur und auch der Kunst. „Medical Humanities“ steht aber auch für das Bemühen, Inhalte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften in das medizinische Curriculum zu integrieren. Im deutschsprachigen Raum wird erst langsam und zaghaft in diese Richtung gedacht und die Arbeitsgruppe „Geschichte der Medizin“, die 2015 an der ÖAW gegründet wurde, hat „Medical Humanities“ in ihren Titel aufgenommen, um ein Zeichen zu setzen.

Wieso sollte sich die Medizin für die Humanwissenschaften interessieren?

Gächter: Wenn Sie in der Geschichte der Medizin zurückblicken, haben Sie die Antwort: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war ein zwei- oder gar dreijähriges philosophisches Propädeutikum verpflichtend für Mediziner. Das heißt alle, die Medizin – oder auch Jus – studieren wollten, hatten eine geisteswissenschaftliche Ausbildung hinter sich. Nach der Märzrevolution 1848 wurden durch Hochschulreformen diese philosophischen Lehrgänge abgeschafft, es entstand langsam die „moderne Schulmedizin“, die durch Spezialisierung der Fachgebiete den Menschen weitgehend aufs Organische reduziert. Dass man in den 1970er- und 1980er-Jahren auf die Idee kam, den Blick wieder holistischer auszurichten, hatte wahrscheinlich auch etwas mit einer Krise der modernen Medizin zu tun.

Entstand durch die Globalisierung eine Notwendigkeit für die Medizin, wieder ganzheitlicher zu denken?

Gächter: Das ist ein wichtiger Aspekt. „Medical Humanities“ ist ein sehr weites Konzept und Transkulturalität, also eine kulturübergreifende Perspektive, ist eines ihrer Teilgebiete, das auch Probleme thematisiert, die wir in österreichischen Praxen und Spitälern derzeit haben: 15 Prozent der hier lebenden Menschen haben eine Migrationsgeschichte, das heißt, sie bringen eine andere medizinische Sozialisation und andere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit mit. Ich nenne Ihnen ein ganz persönliches Beispiel: Als ich vor 30 Jahren aus dem Iran nach Österreich kam, war – egal welche Krankheit ich hatte – meine erste Frage beim Arzt immer: „Was darf ich nicht essen?“, denn in der persischen Kultur ist die Ernährung gleichzeitig Medizin. Ich hatte gelernt, dass ich unbedingt Diät halten muss, wenn ich krank bin.

Wie haben die Ärzte reagiert?

Gächter: Sie waren meist verwundert und sagten: „Sie dürfen alles essen.“ Und ich dachte nur: „Warum bekomme ich keine Diätmaßnahmen?“ und habe sie mir dann selbst verschrieben. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich das medizinische System in Österreich verstanden hatte. Erst später, als ich mich als Sozialwissenschaftlerin mit dem Thema Medizin und Transkulturalität beschäftigt habe, konnte ich auch mein eigenes Verhalten reflektieren.

Allein in Wien werden rund 100 verschiedene Sprachen gesprochen und jede Sprache bringt eine Weltanschauung mit sich. Ein Beispiel: Wenn ich in Österreich krank werde, muss ich Symptome beschreiben, sonst bekomme ich keine Diagnose. Wenn ich aber nicht gelernt habe, symptomorientiert zu kommunizieren, dann können Missverständnisse in der Arzt-Patient-Beziehung entstehen.

Wichtig wäre eine Sensibilisierung für kulturelle Unterschiede, und wichtig wäre, Fragen der Transkulturalität verpflichtend in die medizinische Ausbildung aufzunehmen.

Was wäre die Lösung?

Gächter: Wichtig wäre eine Sensibilisierung für kulturelle Unterschiede und Fragen der Transkulturalität als Teilgebiet der Medical Humanities verpflichtend in die medizinische Ausbildung aufzunehmen. Ich unterrichte unter anderem „Diversity“ für Medizinstudierende und stoße da immer wieder auf Widerstände: „Wozu brauchen wir medizinsoziologische Perspektiven? Wir sind Mediziner/innen, wir sind naturwissenschaftlich orientiert.“

Dabei ist interkulturelle Sensibilisierung auch eine Nutzen- und eine Kostenfrage: Wenn die Patienten und Patientinnen sich nicht verstanden fühlen, wechseln sie oft den Arzt oder die Ärztin; wenn sie nicht richtig verstanden werden, kommt es häufig zu Fehldiagnosen. All das belastet das Gesundheitssystem. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, empathisch und vor allem nicht stigmatisierend mit anderen Krankheitsauffassungen umzugehen. Medizinpluralismus ist kein Nachteil, sondern eine Bereicherung.

 

AUF EINEN BLICK

Afsaneh Gächter ist Soziologin und promovierte 2003 an der Universität Wien. Sie unterrichtete u.a. an der Sigmund Freud Universität und an der Medizinischen Universität Wien und führte mehrere Forschungsprojekte durch. Zuletzt veröffentlichte sie das Buch „Der Leibarzt des Schah: Jacob E. Polak 1818-1891. Eine west-östliche Lebensgeschichte“ (new academic press 2019). Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der ÖAW.

Die interdisziplinäre Tagung „Medical Humanities und Transkulturalität im österreichischen Gesundheitssystem“ der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften will die medizinische Praxis und Forschung im Kontext globaler Verflechtungen thematisieren. Die Veranstaltung war ursprünglich im März 2020 geplant, musste aber aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus verschoben werden.