07.09.2022 | Jans von Wien

Kröten, Crime und Power im Mittelalter

Jans von Wien war einer der frühesten städtischen Autoren deutscher Sprache. Er lebte im Wien des 13. Jahrhunderts und wollte sein urbanes Publikum nicht nur belehren, sondern auch gut unterhalten. Überraschend und unerhört sind seine Anekdoten über Kaiser, Könige und Päpste. Wie dieses ungewöhnliche Werk einzuordnen ist, erklärt die deutsche Germanistin und Mittelalterexpertin Gesine Mierke an der ÖAW.

© Jans Jansen Enikel: Weltchronik - Christherre-Chronik : Ms. germ. fol. 480

Wer den Stadtteil Ottakring in Wien kennt, ist vielleicht schon einmal über die Enenkelstraße spaziert. Auch in Linz gibt es eine Enenkelstraße. Benannt wurde sie nach dem Dichter Jans Enikel, der in der Forschung auch Jans von Wien genannt wird. Er lebte gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Wien und schrieb für ein städtisches Publikum. Seine überlieferten Werke sind die „Weltchronik“ und das „Fürstenbuch“, in dem sich auch die früheste Erwähnung der österreichischen Fahne rot-weiß-rot findet.

Vom 7. bis zum 9. September 2022 findet in der Wiener Hofburg eine vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) veranstaltete internationale Tagung statt, die sich mit dem ungewöhnlichen Werk dieses Reimchronisten befasst, das zwischen historischer Verbürgtheit und unterhaltsamer Fiktion angesiedelt ist. Die in Chemnitz lehrende Germanistin Gesine Mierke hält einen Vortrag zum Thema „Zum Unerhörten bei Jans von Wien. Erzählen in ‚Weltchronik‘ und ‚Fürstenbuch‘“. Was dieses Unerhörte genau ist, erklärt Mierke im Interview.

GESCHICHTEN AUS DER WIENERSTADT

Wer war dieser Jans von Wien eigentlich?

Gesine Mierke: Ein österreichischer Geschichtsschreiber und Geschichtenerzähler. Wir wissen, dass er aus einer wohlhabenden Wiener Familie stammt, die lesen und schreiben konnte, was damals keine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Er sei der Enkel des Jans und er besitze ein Haus in Wien, sagt er in einem seiner Texte. Womöglich hatte er auch einen Schreiber, dem er seine Texte diktieren konnte. Seine zentralen Themen waren die Geschichte der Welt, aber auch die Historie von Wien.

Jans von Wien ging es darum, unterhaltsame und unerhörte Geschichten zu erzählen.

War das Schreiben damals nicht sehr formal, wie realistisch konnte er überhaupt von Wien erzählen?

Mierke: Er stand natürlich in einer bestimmten Bildungstradition, bediente sich rhetorischer Topoi, literarischer Muster und Motive und nahm auf andere Werke Bezug. Gleichzeitig erzählte er gerade in seinem „Fürstenbuch“ in sehr unterhaltsamen Ton über konkrete Herrscher, während es in seiner „Weltchronik“ mehr um Heils- und Weltgeschichte geht.

Kann man von früher Unterhaltungsliteratur sprechen?

Mierke: Das ist durchaus eine Frage, die die Forschung beschäftigt: Warum schreibt er in diesem unterhaltsamen Ton? Für seine Zeit war das etwas Besonderes, so viel Amüsantes, sogar Anekdotisches zu erzählen. Er wird auch immer wieder als redselig beschrieben. Andere Weltchroniken enthalten Geschichten über gute und schlechte Herrscher – und verfolgen dabei ein klares Konzept. Jans von Wien ging es tatsächlich stärker darum, unterhaltsame und unerhörte Geschichten zu erzählen. In der Forschung wird er daher auch als Novellist bezeichnet.

DIE MORAL VON DER GESCHICHTE

War Jans von Wien etwa ein früher Klatschkolumnist?

Mierke: Das ist sicher überspitzt, aber er gibt der Forschung Rätsel auf: Welche Bedeutung haben seine Geschichten? Er erzählt zum Beispiel von Karl dem Großen, der gemeinhin als vorbildlicher Herrscher galt, dass er nach dem Tod seiner Gattin weiterhin Beischlaf mit ihr pflegte. Ein Kaiser, der Nekrophilie betreibt, das war eine Geschichte, die sicher auch sein Publikum verblüffte. Kaiser Nero, der per se als Beispiel für einen schlechten Herrscher gilt, gebiert bei Jans eine Kröte.

Kaiser Nero, der per se als Beispiel für einen schlechten Herrscher gilt, gebiert bei Jans eine Kröte.

Haben diese Geschichten denn auch eine Moral?

Mierke: Es geht sicher um das Zusammenleben von Mann und Frau, um Ehe und Begehren und um Herrschaft. Man könnte etwas allgemeiner sagen, Sex, Crime und Power waren seine zentralen Themen, um menschliches Zusammenleben zu beschreiben. Entscheidend ist, dass er für ein städtisches Wiener Publikum schreibt, das sich neu etabliert und sich bestimmter Normen und Werte versichert oder diese eben hinterfragt. Da ist die Literatur ein ideales Medium, in dem das verhandelt werden kann.

DICHTUNG UND WAHRHEIT

Er hat sich also eine gewisse Narrenfreiheit herausgenommen?

Mierke: Auf jeden Fall, das ist das Innovative in seinem Werk. Er changiert zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung, erwähnt häufig mündliche Gewährsmänner, greift aber auch einiges aus höfischen Romanen auf und plaudert auf zuweilen sehr unterhaltsame Weise. Er kannte sich mit der lateinischen, aber auch der volkssprachigen Dichtung mehr oder weniger gut aus, hat bekannte Erzählmotive neu zusammengefügt, und er hatte offenbar viel zu erzählen.

Sex, Crime und Power waren seine zentralen Themen, um menschliches Zusammenleben zu beschreiben.

Wurden seine Texte mündlich vorgetragen oder kursierten handschriftliche Exemplare?

Mierke: Das ist eine zentrale Frage nach der Rezeption der Literatur des Mittelalters. Für die höfische Zeit und ihre Romane wissen wir, dass die Literatur weitgehend vorgetragen wurde. Die Weltchroniken sind allerdings sehr umfangreiche Text, da gibt es viele Abschriften, die sicher eher für ein Lesepublikum gedacht waren. Zudem sind einige der Handschriften kunstvoll ausgestaltet und einige Episoden mit Miniaturen versehen. Man geht davon aus, dass Jans von Wien auf die Bibliothek des Wiener Schottenklosters Zugriff hatte. Es gibt aber auch Erzählungen, in denen er jüdische Motive und Quellen verwendet. Er muss also auch in enger Verbindung zur jüdischen Gemeinde in Wien gestanden haben.

 

AUF EINEN BLICK

Gesine Mierke ist Privatdozentin für Deutsche Literatur- und Sprachgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Chemnitz. Sie veröffentlichte das Buch „Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien“ im Verlag deGruyter.

Die Tagung „Jans von Wien. Geschichte als leichte Muse. Handschriften, Bilder und Unterhaltung im Mittelalter“ versammelt Expert*innen für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Sprach- und Literaturwissenschaftler*innen und Historiker*innen in Wien. Sie findet auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 7. bis 9. September 2022 in der Hofburg statt.