03.11.2021 | Nachkriegszeit

Inoffiziell legalisiert: Abtreibungen zu Kriegsende in Österreich

Das Sprechen über Schwangerschaftsabbrüche kommt auch heute vielerorts immer noch einem Tabubruch gleich. Wie vor 75 Jahren mit Vergewaltigungen durch sowjetische Besatzungssoldaten und ihren Folgen umgegangen wurde und unter welchen Umständen damals Abtreibungen in Österreich inoffiziell legalisiert wurden, untersucht die Medizinjournalistin und ÖAW-Arbeitsgruppenmitglied Susanne Krejsa MacManus.

Bombardierte Gebäude in Wien, 1946 © Shutterstock

Unentdeckt bleiben und nicht darüber sprechen, das war jahrhundertelang die Devise bei Abtreibungen. Schließlich klassifizierte das bis 1975 in Österreich geltende Strafrecht den Abbruch einer Schwangerschaft als Verbrechen. Das sollte sich im Mai 1945 kurzfristig ändern. Als die Rote Armee in Wien eintraf und die Hauptstadt vom NS-Regime befreite, kam es vielfach zu sexuellen Übergriffen an Frauen. Die Größenordnung war enorm. Der britische Historiker Tony Judt schreibt: „Nach Angaben von Wiener Ärzten sollen [alleine] in den drei Wochen nach dem sowjetischen Einmarsch 87.000 Wienerinnen von Sowjetsoldaten vergewaltigt worden sein.“

Den betroffenen Frauen musste geholfen werden, das war den Ärzten und Politikern des Landes schnell klar, erzählt die Wiener Wissenschaftsjournalistin und Museumsarchivarin Susanne Krejsa MacManus. Sie leitet ein Forschungsprojekt zu Abtreibung in Österreich 1945–1974 und ist Mitglied der AG Medizingeschichte in der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Was schon damals bekannt war: Trotz des Abtreibungsverbots wurden Abbrüche zu Kriegsende stillschweigend geduldet. Sie wurden sozusagen inoffiziell legalisiert. Schriftliche Dokumente dazu fehlten freilich, denn die Weisung erfolgte anfangs nur mündlich. Durch einen Zufallsfund im Archiv der Republik ist MacManus nun doch noch auf ein Schriftstück zu dieser Causa gestoßen. Damit kann sie rekonstruieren, wie Frauen zwischen Mitte 1945 und Ende 1946 straflos einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen konnten.

Zufallsfund als exemplarischer Fall

In dem gefundenen Akt wird ein Strafprozess im Jahr 1946 protokolliert: Ein Wiener Arzt war wegen der Durchführung einer Abtreibung anonym angezeigt worden. Eine Frau, die kurz nach Kriegsende zu ihm kam, hatte behauptet, von einem sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden zu sein. Später stellte sich heraus, dass sie von ihrem Freund schwanger war. Der angeklagte Arzt verteidigte sich und verwies auf die Vereinbarung, wonach Abtreibungen nach einer Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten legalisiert seien. Das zuständige Gericht wusste davon nichts und fragte im Sozialministerium nach. Dieses wiederum bestätigte die Sonderregelung – ließ aber keine Akteneinsicht durch den Rechtsanwalt zu, wie es in dem Schriftstück dokumentiert wird.

Die Prozessakte steht exemplarisch für die damalige Vorgehensweise: „Weder die Worte ‚Russe‘ noch ‚Vergewaltigung‘ durften aufscheinen“, sagt MacManus. Der Grund: „Man musste während der russischen Besatzung diplomatisch jonglieren“, so die Forscherin. Ärzte und Sozialpolitiker hatten sich auf folgende Formulierung geeinigt: „Patientin wird aus gesundheitlichen Gründen und kriegsbedingter Notlage zur Schwangerschaftsunterbrechung aufgenommen.“

Akuter Bettenmangel in Wien

Und die Not war tatsächlich groß: „Um dem Bettenmangel zu begegnen, wurden im Mai 1946 alle geburtshilflich-gynäkologischen Abteilungen öffentlicher Krankenhäuser sowie das Frauenhospiz der Wiener Gebietskrankenkasse in das Programm zum Schwangerschaftsabbruch nach Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten einbezogen“, berichtet MacManus. Vergleichbare Regelungen gab es auch in anderen Bundesländern. So wurden von Juli bis Dezember 1945 in der Steiermark 635 Schwangerschaftsabbrüche nach angezeigten Vergewaltigungen durchgeführt, erzählt die Forscherin. Und auch in Oberösterreich und im Burgenland gab es für einen kurzen Zeitraum Sonderregelungen. MacManus: „Es war schon allen Ländern klar, dass man eine soziale Lösung finden muss.“

Was die Causa außerdem zeigt: Wer sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschied ohne Opfer einer Vergewaltigung durch Besatzungssoldaten gewesen zu sein, konnte in Schwierigkeiten geraten. Und wurde die Angelegenheit aufgedeckt, konnte auch der behandelnde Arzt wegen verbotener Abtreibung angeklagt werden.

Kryptische Erwähnung in Akten

„Bei Strafprozessen finde ich immer wieder mal kryptische Erwähnungen, dass es zu einem Abbruch gekommen ist“, so MacManus. „Meine Forschung endet dort, wo das Gericht endet oder die Gefängnisstrafe beendet ist und ich die Geschichte danach nicht weiterverfolgen und auch nicht mehr nachfragen kann, weil die Betroffenen schon gestorben sind.“

Generell sei es schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen. „Viele Akten sind skartiert worden, andere stapeln sich noch in den Kellern der Gerichte und wurden nie an ein Archiv abgegeben“, berichtet die Medizinjournalistin. Dennoch sucht MacManus weiter.

 

Auf einen Blick

Susanne Krejsa MacManus ist Mitglied der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin und Medical Humanities der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der ÖAW. Sie arbeitet wissenschaftlich und journalistisch inbesondere zu Themen der Medizingeschichte.