17.06.2022 | Putins Regime

Historikerin Scherbakowa: “Der Westen hat in Russland weggeschaut”

Viel ist derzeit über die Ukraine zu lesen. Doch wie sieht die Situation in Russland aus? Die russische Historikerin Irina Scherbakowa wirft einen kritischen Blick auf das Regime von Wladimir Putin und auf Versäumnisse des Westens. Am Weltflüchtlingstag, am 20. Juni, ist sie auf Einladung der ÖAW und weiterer Einrichtungen in Wien für einen Vortrag zu Gast.

Foto von einer Demonstration mit Luftballons in den Farben der Ukraine
Frieden ist in der Ukraine noch nicht in Sicht. Doch nicht alle Menschen in Russland unterstützen Putins Angriffskrieg. © Jakub Ivanov/Unsplash

Repressionen, Widerstand und Exodus in Russland – das ist das Thema des Vortrags von Irina Scherbakowa. Die russische Historikerin und Menschenrechtsaktivistin, die ihr Heimatland verlassen hat, ist am Weltflüchtlingstag bei der von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit Partnern organisierten Konferenz „Der Krieg in der Ukraine und Vertreibung“ in Wien zu Gast. Ihr Vortrag findet in Kooperation mit der Tagung „Tranformations of Freedom“ von RECET statt. Im Interview spricht die Wissenschaftlerin über Putins Propaganda, russische Eliten, die Rolle des Westens und die Ohnmacht der russischen Bevölkerung.

Russland zwischen Ohnmacht und Angst

Was passiert derzeit in der russischen Gesellschaft?

Irina Scherbakowa: Als Historikerin konzentriere ich mich darauf, wie Geschichte vermittelt wird und wie die Menschen damit umgehen. Die Vergangenheit und Geschichtspolitik spielen in Russland eine große Rolle und es ist sehr interessant, welches Bild die Regierung hier präsentiert. Es wird eine bereinigte Version der ehemaligen Sowjetunion konstruiert und historische Mythen - vor allem über den zweiten Weltkrieg - sind von großer Bedeutung. Die Verbreitung entsprechender Propaganda führt in der Bevölkerung einerseits zu ohnmächtiger Gleichgültigkeit und bringt andererseits die Ängste aus der Sowjetzeit wieder an die Oberfläche.

Die russische Regierung präsentiert eine bereinigte Version der ehemaligen Sowjetunion und konstruiert historische Mythen.

Warum konnten sich autoritäre Tendenzen in Russland durchsetzen?

Scherbakowa: Die Demokratie in Russland konnte nach dem Niedergang der Sowjetunion nie gefestigt werden und die Institutionen sind unglaubwürdig und korrupt. Individuelle Freiheit hat daher keinen großen Stellenwert in der Gesellschaft und wird oft als beängstigend wahrgenommen. Zudem werden Stabilität und Sicherheit mit einem mächtigen Staat und starken Führern gleichgesetzt. Als Konsequenz wird eine einzelne Person an die Spitze gestellt, mit enormen Machtbefugnissen. Wer das ist, spielt natürlich eine große Rolle. Putin ist ein Spiegel, der bestimmte Tendenzen in der russischen Gesellschaft stark vergrößert.

EU zeigt Solidarität mit der Ukraine 

Wie beurteilen Sie den Umgang der EU mit Flüchtlingen aus Russland und der Ukraine?

Scherbakowa: Ich glaube, dass man diesmal, was die Ukraine betrifft, Solidarität zeigt. Und ich hoffe sehr, dass das nicht nachlässt, wenn die Leute müde werden und anfangen wegzuschauen. Und was Russland anbetrifft, da muss man sicherlich unterscheiden, ob es Menschen sind, die gegen den Krieg sind.

Der Westen sprach viel von Menschenrechten in Russland, aber die Realpolitik war immer eine ganz andere."

Hätte der Westen durch einen anderen Umgang mit Russland diese Entwicklungen verhindern können?

Scherbakowa: Der Westen hat in Russland zu lange weggeschaut, eigene, kurzsichtige Interessen verfolgt und Repressionen und Gewalt im Land ignoriert. Man hätte viel früher eingestehen müssen, dass die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr gegeben ist und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Warnungen gab es zuhauf, aber die Tendenz, starke Männer im Namen der Stabilität zu stützen und dafür innenpolitische Unterdrückung in Kauf zu nehmen, ist leider weit verbreitet. Der Westen sprach viel von Menschenrechten in Russland, aber die Realpolitik war immer eine ganz andere. Russische Dissident/innen sind schlecht für das Geschäft westlicher Firmen. Daran ändert auch der Krieg nichts, es wird immer noch weggeschaut, gerade auch in Österreich.

Rechtspopulistische und nationalistische Strömungen in Österreich spielen Putin natürlich in die Hände.

Woher kommt das gute Verhältnis zwischen Russland und Österreich?

Scherbakowa: Diese Kontakte bestehen schon lange, die gehen zurück bis in die Sowjetzeit. Dazu kommt, dass rechtspopulistische und nationalistische Strömungen in Österreich Putin natürlich in die Hände spielen, weil er diese ja weltweit fördern möchte. Österreich ist auch bequem für russische Exbeamte, die sich bereichert haben und einen sicheren Hafen suchen. Und die wirtschaftlichen Interessen an russischen Rohstoffen spielen natürlich auch eine Rolle.

Der Krieg und seine Folgen

Was sind aus Ihrer Sicht die weitreichendsten globalen Folgen des Kriegs?

Scherbakowa: Die Folgen sind verheerend in jeder Hinsicht, die europäische Weltordnung ist zerstört, Kernwaffenanwendung ist fast real geworden, und wir haben eine humanitäre Katastrophe im Zentrum von Europa.

Wie haben sich die Verhältnisse für Russ/innen seit Beginn der Invasion verändert?

Scherbakowa: Es gibt immer wieder Proteste gegen den Krieg und es wurden schon über 2.000 Menschen verhaftet und bestraft, weil sie der offiziellen Meinung widersprochen haben. Die Gesetze sind verschärft worden, es gibt eine Menge neuer Zensurmaßnahmen. Hunderttausende Menschen haben Russland seit Ausbruch des Kriegs schon verlassen. Die Folgen der Sanktionen spürt die Gesellschaft derzeit noch nicht sehr stark, aber der Druck wird steigen. Die meisten Menschen sind keine glühenden Unterstützer des Kriegs, obwohl sie massiv mit Propaganda zugeschüttet werden. Sie versuchen lediglich, ihr normales Leben weiterzuführen. Viele haben Angst und schauen deshalb weg. Wie groß die Unterstützung für Putins Vorgehen tatsächlich ist, weiß niemand. Die Abhängigkeit der Bevölkerung vom Staat als Arbeitgeber und Wirtschaftsmotor wächst durch den Krieg weiter.

Die meisten Menschen in Russland sind keine glühenden Unterstützer des Kriegs."

Wie reagieren die Eliten in Russland?

Scherbakowa: Die Eliten in Russland können nicht selbstständig existieren und sind komplett abhängig vom Staat. Deshalb ist es gar nicht so leicht zu definieren, was das Wort “Elite” unter den aktuellen Umständen überhaupt bedeutet. Die Menschen, die tatsächlich Einfluss hatten, haben Geld und sind mittlerweile samt ihren Vermögen geflüchtet, wenn sie die Möglichkeit hatten. Die großen Firmen in Russland sind jetzt besonders abhängig vom Staat, weil sie stärker von Sanktionen betroffen sind und nur mit Unterstützung der Regierung überleben können. Jeder versucht zu verteidigen, was er noch hat. Trotz der engen Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Staat haben viele Geschäftsleute Angst vor Putin und seinen Methoden.

VERLORENE JAHRE FÜR RUSSLAND

Sehen sie eine Möglichkeit für ein anderes Russland nach Putin?

Scherbakowa: Ich bin überzeugt davon, dass der Krieg in der Ukraine für Putins Russland der Anfang vom Ende ist, moralisch, politisch und wirtschaftlich. Das ist unvermeidbar. Aber das Regime hat Ressourcen und wird sich entsprechend noch länger halten, das werden verlorene Jahre für Russland.

Was muss passieren, damit Russland sich vom autoritären Modell verabschiedet?

Scherbakowa: Diese Frage kann wohl niemand beantworten. Aber aus historisch-moralischer Perspektive kann ich sagen, dass der Preis, den die Bevölkerung für einen anderen Weg bezahlen muss, sehr hoch sein wird. Viel höher als nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Leute, die die offizielle Meinung nicht teilen, leben gefährlich in Russland. Ihre NGO “Memorial” wurde in Russland verboten. Wie gehen Sie selber mit der Situation um?

Scherbakowa: Ich habe Russland verlassen, nicht aus Angst, aber aus Zorn und Verzweiflung. Ich habe Angst um meine Kolleg/innen und Freunde, die in Russland weiterarbeiten.