03.12.2021 | Umfrage

Auswege aus der Pandemie

Was passieren muss, damit Pandemien künftig unwahrscheinlicher werden, hat die Soziologin Karen Kastenhofer Expert/innen rund um den Globus gefragt.

Corona legt in vielerlei Hinsicht die Ungleichheiten der heutigen Gesellschaften offen. Mit den Auswirkungen und der Bedeutung der aktuellen Krise für Politik und Gesellschaft hat sich eine Studie am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) befasst.

Darin wurden Expert/innen weltweit um ihre Analyse der sozialen und politischen Dimensionen der Pandemie gefragt. Rund 80 Stellungnahmen aus Österreich, Deutschland, Brasilien, Kanada, China und anderen Ländern zeigen entscheidende Zusammenhänge zwischen menschlicher Gesundheit und globalen Konsum- wie Produktionsmustern. Studienautorin Karen Kastenhofer spricht im Interview über die globalen Perspektiven, die Wissenschaftler/innen über die Krise hinaus entwickelt haben.  

Große Themen von Ökologie bis Impfstoffen

Frau Kastenhofer, Sie haben Wissenschaftler/innen aus aller Welt und aus verschiedenen Disziplinen zu den Auswirkungen von Covid-19 befragt, die über die medizinische Forschung hinausgehen. Welche Gemeinsamkeiten fallen auf?

Karen Kastenhofer: Was überall vorkam: Die großen Themen, wie Ökonomie und Ökologie, Gesundheit und Wohlergehen, die Auswirkungen auf den Lebensalltag und auch die Rolle der Wissenschaft in der Öffentlichkeit, der Umgang mit Evidenz und Fake News und nicht zuletzt der Beitrag der Forschung zur Eindämmung der Pandemie durch neue Impfstoffe. Nachdem wir viele Universitätsprofessor/innen befragt haben, waren auch Folgen der Lockdowns auf die universitäre Forschung und Lehre ein gemeinsames Thema.

Covid-19 wird in Ihrer Studie nicht nur als Terrain der Epidemiologie und Immunologie betrachtet, sondern auch in seinen gesellschaftspolitischen Dimensionen analysiert. Was muss passieren, um weitere Pandemien unwahrscheinlicher zu machen?

Kastenhofer: Diese Frage wurde von den Teilnehmer/innen als die wichtigste bewertet – und auch für mich war es das spannendste Ergebnis. Die Antwort ist ein klares Votum für einen Paradigmenwandel – und zwar auf vielfältige Art und Weise.

Man wünscht sich eine Politik, die für das öffentliche Interesse da ist – und nicht partikularen Interessen oder Lobbygruppen folgt.

Worauf kann dieser Wunsch nach Veränderung heruntergebrochen werden?

Kastenhofer: Die Stoßrichtung war in allen befragten Disziplinen und Ländern sehr ähnlich: Man wünscht sich eine Politik, die für das öffentliche Interesse da ist – und nicht partikularen Interessen oder Lobbygruppen folgt. Statt internationalem Wettbewerb soll es eine echte internationale Zusammenarbeit geben. Für diesen Paradigmenwechsel braucht es auch andere Produktions- und Konsumptionmuster. Man möchte nicht länger auf globale Warenströme angewiesen sein und favorisiert eine zirkuläre Wirtschaft, also ein System, in dem Materialien nicht weggeworfen werden.

Und im Gesundheitssystem?

Kastenhofer: Hier gibt es die Idee des One Health Approach, dass man die menschliche Gesundheit nicht von der Gesundheit der Umwelt und jener von Tierpopulationen getrennt betrachtet. Gemeinsam ist all diesen Interventionen eine ausdrückliche Orientierung an humanistischen Grundwerten wie Solidarität, Respekt, Gerechtigkeit, Inklusion und Verantwortlichkeit.

Fragmentierung nimmt zu

Solidarität wurde in den vergangenen 20 Monaten oft als Schlagwort benutzt. Gegenwärtig ist mehr von Spaltung die Rede. Gilt ähnliches auch in anderen Ländern?

Kastenhofer: In den Ländern des globalen Südens, also in Lateinamerika, Afrika oder Südost-Asien, ist die Schere zwischen Arm und Reich weitaus stärker ausgeprägt und sie nimmt weltweit weiterhin zu. So klaffen auch die Lebenssituationen auseinander. Der unterschiedliche Zugang zu Gesundheitsversorgung und anderen Sozialleistungen, aber auch zu Informationen und politischen Entscheidungen fragmentiert die Bevölkerung in einer Pandemie noch weiter.

Die Wissenschaft hat in der Pandemie eine klare Leadership-Rolle übernommen.

Wie wird die Rolle der Wissenschaft in der Pandemie global bewertet?

Kastenhofer: Die Wissenschaft hat in der Pandemie eine klare Leadership-Rolle übernommen. Das steht für alle fest. Grundtenor war die größere Wertschätzung, die man gegenüber der Wissenschaft nun in der Öffentlichkeit wahrnimmt. Die Bevölkerung hat dadurch viel über wissenschaftliche Evidenz gelernt. Gleichzeitig war aber auch die Zunahme der Verschwörungsmythen ein Thema für die Befragten. Als positiv und wichtig wurde von vielen die internationale Zusammenarbeit und der Austausch bewertet. Eingemahnt wurde, die Wissenschaft verstärkt inter- und transdisziplinär auszurichten und zugleich qualitativ hochwertige Grundlagenforschung weiterhin sicherzustellen.

Unterschiede zwischen Nord und Süd

Konnten Sie bei den Rückmeldungen geografische Unterschiede feststellen?

Kastenhofer: Fragen zur ungleichen Verteilung der Nebenwirkungen zwischen Frauen und Männern, etwa was das Schultern der Last zusätzlicher Betreuungs- und Pflegearbeit betrifft, wurden zum Beispiel nicht überall aufgeworfen. Das wurde in Ländern des globalen Nordens eher angesprochen. In Brasilien war hingegen Politik und Leadership ein großes Thema. Dort wurde stärker nach der direkten Verantwortlichkeit der Regierung gefragt. Und: Die hohe Todesrate in Brasilien hinterließ ihre Spuren im Alltag der Wissenschaftler/innen. Dass die Befragten in ihrer direkten Umgebung Menschen sterben sahen, war bedrückend spürbar.

Die hohe Todesrate in Brasilien hinterließ ihre Spuren im Alltag der Wissenschaftler/innen. Dass die Befragten in ihrer direkten Umgebung Menschen sterben sahen, war bedrückend spürbar.

Sie haben den Fragebogen bewusst transdisziplinär angelegt. Warum?

Kastenhofer: Legt man die Antworten aus den verschiedenen Bereichen übereinander, kann man deutlich sehen, wie sich einzelne Faktoren addieren. Darauf wären wir nicht gekommen, wenn wir eine gezielte Studie, etwa nur unter Psycholog/innen, gemacht hätten. Ein Beispiel: Zu den Risikogruppen, die weltweit besonders unter dem Pandemiemanagement leiden, zählen Junge, Kranke und Arbeitslose. Man erahnt hier deutlich den toxischen Effekt, wenn diese Faktoren in der Bevölkerung kombiniert auftreten.

Kann die Pandemie auch Chancen für soziale, wirtschaftliche und politische Prozesse bieten? Wie sahen dazu die globalen Perspektiven aus?

Kastenhofer: Vor allem im Kontext der nachhaltigen Entwicklung, etwa bei der Reduktion im Flugverkehr, wurden viele Chancen gesehen. Häufig wurde auch der Digitalisierungsschub, der mit dem Ausbruch der Pandemie zu beobachten war, genannt. Das wurde von manchen kritisch, von anderen als Chance gesehen. Stichwort Homeoffice: Hier wurde hinsichtlich der Work-Life-Balance einiges positiv bewertet. Offen bleibt allerdings, inwiefern diese Chancen weiterhin genutzt werden. Ob man daraus lernt oder, ob das wieder verpufft. Hier werden die kommenden Monate und Jahre entscheidend sein.

 

AUF EINEN BLICK

Karen Kastenhofer ist Wissenschafts- und Technikforscherin und promovierte Biologin. Ihr Arbeitsbereich umfasst die Rekonstruktion unterschiedlicher (Techno)Wissenschaftskulturen, die Analyse öffentlicher Kontroversen sowie die Diskussion möglicher Governance-Modelle im Bereich der Lebenswissenschaften und Biotechnologien. Kastenhofer ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) tätig.

Die Studie

Was sind die Sichtweisen von Wissenschaftler/innen aus unterschiedlichsten Disziplinen auf der ganzen Welt auf die Pandemie und ihre Folgen? Was können wir aus dem Umgang mit der Pandemie lernen? Und wie können wir uns zukünftig besser auf solche Krisen vorbereiten? Das waren einige der Themen einer internationalen Expert/innen-Umfrage, die Karen Kastenhofer zwischen Mai und August 2021 durchführte. Der ausführliche Projektbericht mit den Rückmeldungen aus zahlreichen Ländern ist hier zum Nachlesen zu finden.