Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Petri Blesensis Carmina cura et studio Carsten Wollin. Turnhout: Brepols 1998. 714 S. (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 128.) ISBN 2-503-03281-8 relié ISBN 2-503-03282-6 broché ISBN 2-503-0300-9 série

W. legte in diesem Band erstmals eine Gesamtausgabe aller sicher oder wahrscheinlich von Peter von Blois stammenden und der inzwischen als unecht erkannten Gedichte vor. Jedem Carmen ist neben dem textkritischen Apparat ein Kommentar beigegeben, der – abgesehen von Hinweisen auf kontroversielle Interpretationen in der modernen Forschung – vornehmlich aus einer Auflistung der biblischen und antiken Vorbildstellen und der Parallelen aus anderen Werken Peters bzw. zeitgenössischer Autoren besteht. Dem Kommentar zu den einzelnen Gedichten vorangestellt ist jeweils ein Verzeichnis der Handschriften, ferner sämtliche Erwähnungen in der Sekundärliteratur und eine Inhaltsangabe. Die sehr umfangreiche Einleitung (7 – 220) enthält eine Übersicht über die Forschungslage zu dem mittellateinischen Dichter (11– 34), eine Beschreibung der Handschriften und Drucke (35 – 68), eine gründliche Diskussion der Echtheitsproblematik der einzelnen Gedichte (69 –143), schließlich Erörterungen von Form und Gattung (144 –157), Datierung (158 –161), Quellen und Vorbildern (162 –172) und Nachwirkung (173 –176). Ein Literaturverzeichnis (177 – 210) und Vorbemerkungen zur Edition (211– 220) beschließen die Einleitung zu der Ausgabe, die W. selbst im Vorwort (7–10) als Arbeitsedition deklariert; sie soll als Grundlage für weitere literarhistorische Forschungen zu Peter dienen.
W. ist sich der Tatsache sehr wohl bewußt, daß die schon von früheren Forschern, besonders Dronke, vorgenommene Zuschreibung mancher Gedichte an Peter nach wie vor problematisch bleibt. Trotzdem legt er gerade im Hinblick auf die Echtheitsfrage bisweilen zu großen Optimismus an den Tag, wenn er Gedichte als "mit hoher Wahrscheinlichkeit" von Peter stammend bezeichnet. Das trifft etwa, um ein Beispiel herauszugreifen, auf die Liebeslieder (1–16) und zwei Weihnachtslieder (17, 20) der Arundelsammlung zu, die W. unter 3, 1–18 als authentische Gedichte ediert. In der Einleitung (99 –118) führt er für deren Echtheit folgende Argumente an: das Akrostich PETRI in 3, 7; die Junktur incendia blesencia im Refrain von 3, 15, in der schon Dronke eine Anspielung auf (Petrus) Blesensis sehen wollte; die Kenntnis der Cosmographia des Bernardus Silvestris, der nach W. Peters Lehrer in Tours war; die Imitation der descriptio pulchritudinis aus den anonymen, vielleicht von Peter stammenden Flores rhetorici in 3, 4 und ein Zitat aus diesem Gedicht in Peters auf den Flores beruhendem Libellus de arte dictandi rhetorice; schließlich einige formale, sprachliche und gedankliche Parallelen zu den echten Gedichten. Bei kritischer Hinterfragung erweist sich aber keines der angeführten Argumente als wirklich stichhaltig: Petrus ist ein derart häufiger Name, daß das Akrostich gar nichts besagt. Die Cosmographia war im 12. Jh. in Frankreich allgemein bekannt, und daß Peter bei Bernardus Silvestris studierte, ist – gegen W. – nicht sicher: Diese Behauptung beruht nämlich einzig auf der Zuweisung der Verstragödie Mathematicus an Bernardus, aus der Peter an zwei Stellen seiner Prosawerke je ein Distichon mit dem Vermerk magister meus zitiert. Ein genauer metrisch-stilistischer Vergleich der Distichen des Mathematicus mit denen der Cosmographia spricht allerdings gegen Bernardus als Verfasser der Verstragödie; das Gedicht dürfte vielmehr – in literarischer Auseinandersetzung mit der Cosmographia – von einem Dichter aus dem Kreis des Bernardus Silvestris in Tours verfaßt worden sein (dazu vgl. Ch. Ratkowitsch, Astrologie und Selbstmord im Mathematicus. Zu einem Gedicht aus dem Umkreis des Bernardus Silvestris, WSt. 112 [1999], 175 – 229). Die Zitate aus den Flores und dem Gedicht 3, 4 im Libellus beweisen bloß eine Kenntnis dieser Werke durch Peter, besagen aber nichts über deren Verfasserschaft. Dasselbe gilt für die übrigens recht spärlichen inhaltlichen und sprachlichen Parallelen zu anderen Gedichten Peters; am ehesten könnte noch als Argument für Peter die den sicher echten Gedichten und denen der Arundelsammlung gemeinsame relative Vorliebe für Reimung auf -ius angesehen werden, doch begegnet das Phänomen auch anderweitig. Was schließlich die angebliche Anspielung auf Peters Heimatort Blois in dem in A überlieferten Wort blesencia betrifft, muß man den Kontext von 3, 15 in die Betrachtung miteinbeziehen. Der Refrain des Gedichtes lautet folgendermaßen: ha, quam dulcia / sunt gaudia / fideliter amantis! / incendia blesencia / sunt voces adulantis. Thema des Gedichts sind die falschen Schmeicheleien der treulosen Flora, mit denen sie den Dichter doch immer wieder in ihren Bann zieht. Seinem Schmerz darüber verleiht er in dem Refrain Ausdruck, in dem er die Freuden, die eine treue Geliebte schenkt, den incendia blesencia seines trügerisch schmeichelnden Mädchens gegenüberstellt (adulantis bezieht sich auf das Mädchen, nicht, wie W. 117 zu glauben scheint, auf einen männlichen Liebhaber). Die Wendung incendia blesencia, die Floras verwerfliches Verhalten kritisiert (vgl. Str. 3, 1– 6: adulando / risu blando / mollit et effeminat, / depredatur / et furatur / mentes, quas infascinat), kann also schon allein aufgrund dieses Inhalts keine Anspielung auf Petrus Blesensis sein! Nicht zutreffend ist übrigens auch die von W. angeführte Übersetzung McDonoughs "the words of a lover are whispering fires", weil dort adulantis unterdrückt wurde und blesencia nicht zu blaesus zu stellen ist, sondern zu frz. blesser ("verwunden", "verletzen"), das sich von fränk. blettian und altfranz. blecier ableitet.
Die Konstitution des Textes erwies sich insgesamt als nicht allzu problematisch: W. folgt stets einer Leithandschrift, allerdings unter Berücksichtigung der sonstigen Überlieferung. Nicht immer geglückt sind seine Konjekturen: So scheint in 2, 7, 3a, 3 die Konjektur peccandi securitas statt der in O, dem Codex unicus, überlieferten Wendung peccandi severitas unnötig, weil dieses Substantiv auch im Sinne von crudelitas oder furor belegt ist. In 2, 9, wo der Dichter, der Topik der Altersstufen folgend, dem lasziven Leben in der Jugend (Str. 1) die durch die etas viri bedingte Umkehr (Str. 2 – 3) gegenüberstellt, lautet Strophe 3 in W.s Textgestaltung folgendermaßen: etas illa monuit, / docuit, / consuluit; / sed iuventus annuit: / "nichil est exclusum!" / omnia / cum venia / contulit ad usum. Während Schumann etas illa als Jugend interpretierte, tritt W. aufgrund der Verben monuit, docuit, consuluit richtig für die schon in Str. 2 genannte etas viri ein; deshalb konjiziert er in Vers 4 statt des überlieferten sic et etas der Handschrift Cb sed iuventus, bezieht die folgenden Zeilen auf die Jugend und sieht in der gesamten Strophe den Kampf zwischen Jugend und Mannesalter repräsentiert. Zu erwägen wäre allerdings eine andere Konjektur, die weniger stark in die Überlieferung eingreift: sic et vetans abnuit "nichil est exclusum". In diesem Fall bliebe die etas viri Subjekt, von der schon in Str. 2, 4f. gesagt wurde: talem vitam ducere / viri vetat etas. Mit omnia – ad usum würde dann auf einen Topos der Altersstufen angespielt (vgl. Horaz, ars poet. 164: der Jüngling ist, anders als der vir, ein utilium tardus provisor), dieser aber christlich überhöht: Den ausschließlich weltlichen Werten Vermögen und Ehre, die bei Horaz für den vir die utilia ausmachen, würden in dem mittelalterlichen Gedicht ethische gegenübergestellt (usus im Sinne von utilitas ist schon in der Antike nicht ungewöhnlich): Die Konsequenz der durch die Mahnungen der etas viri hervorgerufenen Wende enthält die letzte Strophe, in der der Dichter als handelndes grammatikalisches Subjekt den vitia entsagt und sich für die virtutes entscheidet.
Hinsichtlich der Similien des Kommentars sind die Parallelen aus anderen Werken Peters und seiner Zeitgenossen sehr sorgfältig zusammengestellt und hilfreich, an Vorbildstellen hätte noch einiges ergänzt werden können: So ist 1, 1 in seiner Gesamtheit eine literarische Auseinandersetzung mit Horaz, carm. 3, 26 (der bloß scheinbaren Abkehr des Horaz von der Liebe steht die wahre conversio in christlichem Sinn gegenüber), ferner 2, 4 mit Vergils zehnter Ekloge (während Gallus am Ende wieder der Liebe zu Lycoris unterliegt, entsagt der mittelalterliche Dichter seiner Lycoris und wendet sich ernsten Dingen zu). Zu 3, 5 (Erfüllung der Liebe nur im Traum) sollte man Maxim. 4 als eine mögliche Quelle zitieren, zu 3, 8 (Ekphrasis der nackten Flora, deren Schönheit selbst Jupiter erliegen könnte) Maxim. 5 (Ekphrasis der puella, von der selbst Jupiter bezaubert wäre; bei dem impotenten Greis führen die Verführungskünste des Mädchens allerdings nicht wirklich zum Erfolg). Gerade diese vorgeschlagenen Ergänzungen zeigen, daß dem Autor sein Vorhaben, eine Arbeitsedition vorzulegen, auf deren Grundlage eine literarische Interpretation der Gedichte erfolgen kann, gelungen ist: Die in ihren Ergebnissen zwar nicht immer originelle, aber mit großem Fleiß und Sorgfalt gestaltete Ausgabe wird für alle künftigen Forscher, die sich mit Peter von Blois beschäftigen, ein unentbehrliches Arbeitsinstrument sein.
Christine Ratkowitsch
 

Home Rezensionen 2000

Rezensionen