Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Volker Riedel, Literarische Antikerezeption. Aufsätze und Vorträge. Jena: Dr. Bussert & Partner 1996. 444 S. (Jenaer Studien. 2.) ISBN 3-9804590-1-2

In diesem hochinteressanten Band sind 22 Arbeiten R.s zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Antike gesammelt, denen Vorträge der Jahre 1973 –1994 zugrunde liegen. Das Buch ist zu begrüßen, da die vielfach an entlegener Stelle publizierten Beiträge nun einem weiteren Interessentenkreis zugänglich geworden sind. Als roter Faden zieht sich durch alle Beiträge der Gedanke von der Bedeutung des antiken Erbes für die heutige Zeit; dieses könne insbesondere dann fruchtbar werden, wenn man es in die Sprache der Moderne transformiere. R. sieht 'Rezeption' als eine "dreistellige Relation von Antike, Gegenwart und weltliterarischer Tradition" (206), bezieht also die bisherige Auseinandersetzung mit einer Figur / einem Stoff in die Beurteilung der modernen Konzeption entscheidend mit ein (vgl. z. B. den einleitenden Vortrag zum "Nachleben der Antike als interdisziplinäre Aufgabe", 9ff.).
Der Band gliedert sich in drei Teile: (1.) übergreifende Arbeiten zum Nachwirken der Antike in der modernen Literatur (9ff.), (2.) Arbeiten zur Literatur des 18. Jh. (83ff.) und (3.) zum 20. Jh., und hier vor allem zur Literatur der DDR (183ff.). Schon im Vorwort betont der Verfasser, marxistische Denkansätze und soziale Erfahrungen in der DDR vor der 'Wende' verstärkt einbeziehen zu wollen; angesichts der kritischen Distanz zu den Phänomenen tut dies dem Diskurs gewiß keinen Abbruch. In dem Aufsatz zu Aristoteles, Lessing, Goethe und der modernen Wirkungsästhetik (22) wird auf die Modernität der antiken Ästhetik mit ihrem speziellen Bezug auf die Publikumsreaktion hingewiesen (vgl. schon Gorgias und Aristophanes, jetzt besonders bei E. R. Schwinge, Griechische Tragödie und zeitgenössische Rezeption: Aristophanes und Gorgias, SB Joachim Jungius-Gesellschaft 15, 2, Hamburg 1997). Für den Klassischen Philologen von speziellem Interesse sind auch die Vorträge zur Rezeption des Amphitryonstoffes (32), der Heraklesfigur (46) und des Ödipusmythos (65). In der Arbeit zum Amphitryon zeigt R., wie je nach Intention des Autors komische (Molière) und tragische (Kleist, Kaiser) Elemente überwiegen, und wie dann Peter Hacks versucht, in seinem Drama die Vorzüge seiner Vorgänger zu integrieren (41f.). In seiner Interpretation des sophokleischen Ödipus neigt R. der jetzt gängigen Ansicht vom 'intellektuellen Fehlverhalten' des Ödipus zu. Im Querschnitt durch die Rezeption des Ödipus-Stoffes wird auf die psychologische Vertiefung und die sozialkritische Nuancierung in der Literatur des 20. Jh. besonders hingewiesen (z. B. hat Ödipus bei Heiner Müller wie schon bei Brecht zumindest eine Ahnung von seinen Taten). In den Abhandlungen des zweiten Teils legt R. (dessen Diss. von Lessings Verhältnis zur römischen Antike handelte) das Schwergewicht auf die Aktualisierung und Modernisierung des antiken Erbes. Dabei wird Lessing als Klassischem Philologen minuziöse Genauigkeit in der Beschreibung der Phänomene bescheinigt, zugleich jedoch auch eine gewisse Enge bei der Erörterung größerer Zusammenhänge, zumindest im Vergleich mit der Literaturkritik der deutschen Klassik, konstatiert. Der 'Philotas' wird (132ff.) als polemische Auseinandersetzung mit der heroisch-politischen Tragödie und mit dem 'patriotischen Preußentum' des Siebenjährigen Krieges verstanden; der Charakter des Helden sei bei allem Opfermut überspannt und sozial gefährlich angelegt. – Von ganz speziellem Interesse erscheint der Block über das Antikebild in der Literatur der DDR (183ff.), wo nach einer Phase der Zustimmung zum System immer mehr Werke entstanden, die gerade die Polarität des Geschehens im Lande reflektieren. Anhand von Gestalten wie Prometheus, Odysseus und Herakles wird dieser Weg hin zum kritisch-problematisierenden Umgang mit dem antiken Erbe dokumentiert. Und hier steht Prometheus immer wieder im Brennpunkt: R. zeigt, wie die in dieser 'Retterfigur' potentiell angelegten Unzulänglichkeiten und Widersprüche (naive Illusion; übertriebene Kompromißbereitschaft) bei den Modernen zur Destruktion dieser Gestalt geführt haben (B. Brecht, H. Müller, P. Hacks in seiner Adaptation der 'Vögel' des Aristophanes, insbesondere aber auch in der Bearbeitung von Goethes 'Pandora'). Reich an Problemstellungen ist z. B. auch der Vortrag zu den "Frauengestalten in der Antikerezeption der DDR-Literatur" (205), in dem u. a. Brechts 'Antigone' und Christa Wolfs 'Kassandra' behandelt werden. Kassandra z. B. solle die Qualen einer Frau in einem barbarischen Krieg und die Nutzlosigkeit ihres 'Höheren Wissens' vor Augen stellen und an das Mitgefühl, aber auch an das Problembewußtsein der Rezipienten appellieren. – Auf die grundlegenden Arbeiten zum Antikebild Erich Arendts (226ff.) und Franz Fühmanns (254ff.) kann hier nur hingewiesen werden. Die Beiträge sind durchwegs überzeugend geschrieben; gelegentliche Überschneidungen sind bei einem Sammelband dieser Art unvermeidlich. Störend fand der Rez. hingegen das Fehlen eines zentralen Literaturverzeichnisses, welches die separat gedruckten, manchmal ausufernden Anmerkungen ein wenig entlastet hätte.
Walter Stockert
 

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