Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Markus Janka, Ovid, Ars Amatoria Buch 2, Kommentar. Heidelberg: Winter 1997 (Diss. Regensburg 1997). 514 S. (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern.) ISBN 3-8253-0593-7

Wissenschaftliche Kommentare zu Ovids Carmina amatoria sind Mangelware: Weder Ars noch Amores wurden nach Paul Brandt (Leipzig 1902 bzw. 1911; Nachdrucke) bis zum heutigen Tage durchgehend neu kommentiert, die Erklärungen in doppelsprachigen Ausgaben sind im allgemeinen äußerst knapp, sporadisch und eher elementar ausgerichtet; auf höherem Niveau steht lediglich der Kommentarteil in der bilinguen italienischen Edition der Ars amatoria von E. Pianezzola - G. Baldo - L. Cristante, Mailand 1991, aber auch er ist durchaus unausgewogen und streckenweise lückenhaft. Somit ist es überaus erfreulich, daß nach J. C. McKeowns Kommentaren zu Amores 1 und 2 (Leeds 1989 und 1998) nun auch wenigstens zum zweiten Arsbuch ein moderner, überaus umfangreicher Kommentar vorliegt. Die Auswahl dieses Buches erklärt J. mit dem angestrebten Anschluß an den Kommentar von A. S. Hollis zu Ars 1 (Oxford 1977), als dessen "Fortsetzung" sich J.'s Arbeit "in gewisser Weise" versteht (35). Dies gilt jedoch nicht für die Kommentierungstechnik, worin J. sich nicht an Hollis' konzisen Stil hält, sondern sich methodisch eingestandenermaßen (37) an McKeown anlehnt, was durchaus nicht unbedingt zum Vorteil des Lesers ist. Bei aller Anerkennung der vom Autor in seiner "Apologie für ein μέγα βιβλίον" (36f.) angeführten Gesichtspunkte muß festgestellt werden, daß der Benützer sich mit einer (Über)fülle von Material konfrontiert sieht, das noch dazu in denkbar intrikater, wenig leserfreundlicher Art präsentiert wird; in diesen Punkten erinnert J.s Werk stark an F. Bömers monumentalen Metamorphosen-Kommentar. Die aufgebotene Gelehrsamkeit ist in vielen Fällen nicht funktional eingesetzt. Um nur ein Beispiel zu geben: Angesichts der Erwähnung der torva Medusa (Vers 309) fragt man "bei unbefangener Lektüre des Textes" (37) gewiß nicht nach der Genealogie der Gorgo Medusa, nach Bezeugungen ihrer Enthauptung durch Perseus in griechischer und lateinischer Literatur oder nach Belegen für das Motiv des Schlangenhauptes und für die Aigis in der lateinischen Dichtung, was alles nebst ausgeschriebenen Homer- und Hesiodstellen auf gut einer halben Seite zu diesem Vers ausgeführt wird; hier schießt der Autor über das von ihm selbst formulierte Ziel seiner Tätigkeit weit hinaus.
Diese grundsätzliche und grundlegende Kritik kann und soll die Meriten von J.s Arbeit aber nicht in Frage stellen. Sie bestehen vor allem darin, daß der Text im Rahmen der literarischen Tradition der römischen Liebeselegie nicht nur unter sprachlichen – dazu freilich gleich später mehr –, sondern auch unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet und genau interpretiert wird, wobei die gerade in der letzten Zeit dazu in reicher Fülle erschienene Sekundärliteratur gewissenhaft und in erfreulich kritischer Form eingearbeitet erscheint; mit Recht wendet sich J. etwa an vielen Stellen durchaus überzeugend gegen die überzogenen, ja haltlosen allegorischen Deutungen des Textes durch A. R. Sharrock. Positiv sei ferner vermerkt, daß der Autor, in den Spuren W. Strohs und anderer, Ovids Text auch im politischen und gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit beurteilt und dabei die Kontraposition des Dichters zur augusteischen Gesellschaftspolitik richtig erkennt und herausarbeitet: So fördert er manche mehr oder weniger kaschierte Augustusbezüge zutage, z. B. in den Versen 147, 387, 664 u. ö.
Auf der anderen Seite geht J. mit seiner Annahme sexuellen Doppelsinns an zahlreichen Stellen entschieden zu weit. Meine Ablehnung erwächst nicht etwa aus Prüderie, die bei der philologischen Behandlung ovidischer Liebesdichtung wirklich fehl am Platz wäre, sie wird vielmehr durch die Umgebung der jeweiligen Stellen herausgefordert. So ist es z. B. für mich nicht mitvollziehbar, ja dem Kontext nach geradezu auszuschließen, daß officium im Vers 333 auch den Coitus meinen soll, daß taurus und vitulus im Vers 341 auch als Chiffren für einen älteren, sexuell potenten bzw. einen jungen Liebhaber dienen und daß die mysteria Veneris (609) an die Geschlechtsorgane denken lassen sollen. Überhaupt ist im rein sprachlichen Bereich eine ganze Reihe von Fehlern zu registrieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können, verweise ich auf folgende Beispiele: Die Junktur amor errat ist keineswegs "nahezu singulär" (so J., 269 zu Vers 339), sondern allein bei Ovid noch ars 3,436, ep. 17,191 und 19,96 sicher belegt; simul ist im Vers 569 nicht als Zeitadverb, sondern als temporale Konjunktion verwendet; die Konjunktive fugent (Vers 153), credant (154) und captent (597) sind nicht, wie J. jeweils ad loc. erklärt, konzessiv, vielmehr jussiv; tranabas (250) kann nicht konativ sein, sondern nur iterativ, vgl. saepe im vorhergehenden Vers; urere ist nicht eine "anschauliche Metapher für das Lieben" (p. 278 ad v. 354), sondern nur für den Anlaß dazu. Dazu kommen offenkundige interpretatorische Fehlbezüge wie die folgenden: quam sc. assuetudinem statt sc. puellam (346) oder hoc sc. donum (387f.), wo nur der Status einer univira gemeint sein kann. Diese Fehldeutungen entspringen wohl dem an und für sich zwar löblichen Streben des Anfängers, die bisherige communis opinio in Frage zu stellen, sind allein darum aber doch um nichts wahrscheinlicher. Nur verquer ist etwa ferner der Gedanke zu nennen, im Vers 356 (Phylacides aberat, Laodamia, tuus) stecke eine Anspielung auf das Wachsbildnis des Protesilaos – demgemäß übersetzt J. auch mit "er gehörte dir selbst als Abwesender" –, und die Übersetzung "Hab' eine gewisse … Anzahl verbalisierter Liebesfreuden in petto" für den gewiß schwierigen Vers 308, der erst noch zu sanieren ist, bedarf wohl keines Kommentars. In sprachlichen Belangen treten also eindeutige Defizite des Autors zutage, der zusätzlich etwa in seiner Erklärung zu Vers 436 (et, si nulla subest aemula, languet amor) auch jegliche methodische Selbstkontrolle vermissen läßt. Dort nennt er seinen, nebenbei bemerkt völlig unfundierten, bloß verspielten Vorschlag, et si als etsi zu lesen und den Sinn der Aussage somit ins Gegenteil zu verkehren – seiner Meinung nach eine besonders "Ovidische" Pointe – abschließend "gewiß ein(en) selbstironische(n) Hinweis auf die 'Ernsthaftigkeit' und Zuverlässigkeit erotischer Gesetzmäßigkeiten" (331).
Nach dem Gesagten mag man es wohl begreiflich finden, daß das Gesamturteil über J.s Buch einigermaßen zwiespältig ausfallen muß. Es handelt sich dabei um ein offenkundig mit großem Fleiß, ja Hingabe an den Gegenstand geschriebenes Werk, das vor allem als reiche Materialfundgrube zu Ovids Ars amatoria in Hinkunft von allen dankbar benützt werden kann und deswegen mit Sicherheit einen fixen Platz im Rahmen der Ovidliteratur einnehmen wird – was nicht jeder Dissertation zuteil wird: J.s sprachlichen Erklärungen und Übersetzungen gegenüber sei jedoch allen zukünftigen Lesern des Buches ein gerüttelt Maß an Reserviertheit empfohlen.
Erich Woytek
 

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