Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


J.-Th. A. Papademetriou, Aesop as an Archetypal Hero. Athens: Hellenic Society for Humanistic Studies 1997. 111 S. (Studies and Researches. 39.) ISBN 960-7184-36-X

Das schmale Buch gibt einen kleinen Einblick in die zahlreichen Facetten von P.s lebenslanger Beschäftigung mit dem sogenannten Aesop-Roman, wie sie auf andere Weise vor allem in dem Band Αἰσώπεια καὶ Αἰσωπικά (Athen 1987, ²1989), aber auch in weiteren rezenten Arbeiten dokumentiert ist. P. fühlt sich dem Werk seines Lehrers B. E. Perry verpflichtet und arbeitet seit Jahrzehnten an der Erschließung des Verständnisses dieses schlecht überlieferten, sprachlich schwierigen und inhaltlich irritierenden Textes. P.s Schwerpunkte der Forschung liegen in Fragen der Überlieferung, der Textkritik und in der Beleuchtung des 'Nachlebens' des Romans. In dem vorliegenden Band bleibt die Textkritik auf wenige treffende Bemerkungen in den Fußnoten beschränkt, und P. versucht sich der Frage nach dem Wesen des unglaubwürdigen Helden Aesop von zwei Seiten zu nähern: von der antiken Tradition des häßlichen Helden her, und von der Rezeption der Aesop-Figur des Romans in der neuzeitlichen Literatur. Den Ausgangspunkt für das 1. Kapitel (Aesop's Description: Origins, Style, and Influence) liefert die den Romantext einleitende Beschreibung des 'Helden', sowohl was ihren Inhalt als auch was ihren Stil, die asyndetische Aufzählung von Eigenschaften des Aesop, betrifft. P. verwirft Thesen, wonach diese Art der Beschreibung aus dem Stil von ägyptischen Polizei-Steckbriefen abgeleitet wäre, verwirft auch die direkte Ableitung aus physiognomischem Schrifttum und stellt demgegenüber den als häßlich beschriebenen Aesop in eine Reihe mit analogen 'Helden' der griechischen Tradition: Thersites in der Ilias, der unansehnliche Stratege bei Archilochos (114 West), und die Sokrates-Figur. Die zwei letzteren Gestalten vereinen in sich denselben Gegensatz von häßlichem Äußeren und inneren Werten wie der Aesop des Aesop-Romans; man wird vermuten dürfen, daß auch Thersites wohl spätestens von den Kynikern zu einem 'kynischen Weisen' aufgewertet wurde, und zwar gerade aufgrund seines Verhaltens in der Ilias (vgl. Luk., Demonax 61, ᾿Επῄνει δὲ καὶ τὸν Θερσίτην ὡς Κυνικόν τινα δημηγόρον). Die Frage nach dem literarischen Stammbaum des Helden des Aesop-Romans ist also noch keineswegs bis ins Letzte beantwortet, aber P. zeigt mit kräftigen Linien, welche Richtung zukünftige Forschungen einzuschlagen haben.
Die weiteren Kapitel gehören dem Nachleben des Aesop-Romans in neuzeitlichen Transformationen: in dem Schelmenroman "Le sottilissime astuzie di Bertoldo" von Giulio Cesare dalla Croce (1606), in dem Archegeten des Picaro-Romans, "La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades" (1554), und im griechischen Schattentheater des 19. (und 20.) Jh. mit seinem grotesken Helden Καραγκιόζης. Mit sicherem Griff streicht P. auch hier die entscheidenden Züge hervor, die den Aesop des Aesop-Romans und seine späteren Reinkarnationen miteinander verbinden. Er hebt die Bedeutung der lateinischen Übersetzung des Aesop-Romans durch Rinuccio da Castiglione (1448) für die Rezeption im Westen hervor, und er unterstreicht die analoge soziale Funktion von Aesop-Figur und Καραγκιόζης, dem von den Türken unterdrückten 'underdog'. Der 'archetypische Held' Aesop gewinnt also auch durch die Analyse seiner Rezeptionsgeschichte an Beleuchtung.
Georg Danek
 

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