Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Kurt Sier, Die Rede der Diotima: Untersuchungen zum platonischen Symposion. Stuttgart-Leipzig: Teubner 1997. XVI, 329 S. (Beiträge zur Altertumskunde. 86.) ISBN 3-519-07635-7.

Platons philosophisches Anliegen ist in der vorletzten Rede des Symposion, der Diotimarede, formuliert, doch sind auch philosophische Ansätze der Vorredner in ihr berücksichtigt und zusammengefaßt, deren philosophischer Gehalt darin aufgenommen. Es liegt also nahe, die Rede als Summe der Diskussion zu betrachten. Den Beziehungen dieser einzelnen Reden zur Diotimarede wird in dem Kommentar nachgegangen. Die zentralen Aussagen des Dialogs sind Sokrates in den Mund gelegt, entwachsen sind sie allerdings diesmal nicht seinen eigenen Gedanken, sie sind lediglich Bericht, ein Bericht, den er einst selbst von der weisen Seherin gehört hat und den er nun wiedergibt. Seine Rolle gleicht damit einer vermittelnden, ähnlich der Rolle des Gottes, dem sie gilt. Die μεταξύ-Stellung eignet beiden, Eros, dem großen Dämon (203a 6 – 9), und Sokrates, dem Philosophen (3). Sokrates ist bindendes Glied zwischen Diotima und den Zuhörern, Eros zwischen Gott und den Menschen. Die Funktion des Eros ist also einerseits vermittelnd (34 – 42), ferner ist sie kognitiver Natur (21– 34), denn das als καλόν zu Erstrebende muß als solches erst erkannt werden. Das geschieht in zwei Stufen: der 'erotischen' Tätigkeit des φιλοσοφεῖν, und einer anderen, ihr vorausgehenden, die ebenso charakteristisches Merkmal des Eros ist, dem ὀρθὰ δοξάζειν (26). Auch letzterem kommt eine Zwischenstellung (μεταξύ) zu, diesmal auf kognitiver Ebene. In weiteren Kapiteln geht S. auf Diotimas Theologie ein. Sie ist mit den Sätzen, Eros wäre der im "Wesen des Sterblichen verankerte Trieb, etwas Bleibendes zu hinterlassen, der den Menschen existentiell ans Schöne bindet" (125) und: "Diotima versteht das kulturelle Erbe Griechenlands als Dokument des allumfassenden Verlangens, dem Tod zu entgehen durch die Erinnerung, die jeder echten Leistung zuteil wird" (125) treffend umschrieben. Denn Unsterblichkeit und Eudaimonie und damit die größtmögliche Annäherung an das Ewige, Göttliche (ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν) sind Ziel jedes menschlichen Strebens (128). S. unterteilt die Rede in Sinneinheiten, die er jeweils mit inhaltlichen Paraphrasen versieht und auf "Gedankengang und sachliche Funktion" untersucht, wobei Ausblicke auf andere platonische Dialoge, insbesondere die Politeia, gegeben werden. Im Anschluß daran finden sich zahlreiche Einzelerklärungen. In einer abschließenden Betrachtung (293 – 297) werden dann die losen Beziehungen der jeweils einzeln interpretierten Teile verknüpft und zusammenhängend dargestellt. Die Arbeit selbst ist Teil eines Symposionkommentars, der sich in Vorbereitung befindet und der Platonphilosophie neue Impulse zu geben verspricht.
Maria-Christine Leitgeb
 

Home Rezensionen 2000

Rezensionen