Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Katherina Glau, Rezitation griechischer Chorlyrik. Die Parodoi aus Aischylos' Agamemnon und Euripides' Bakchen als Tonbeispiel auf CD mit Text und Begleitheft. Heidelberg: Winter 1998. 40 S., 1 CD (Bibliothek der klass. Altertumswissenschaft, N. F. 2. 101.) ISBN 3-8253-0753-0

Die Autorin hat die genannten Chorlieder zusammen mit Studierenden der Universität Heidelberg wiederholt als von Rezitation begleiteten Tanz aufgeführt und schließlich eine CD des hörbaren Teiles der Performances aufgenommen. Das sehr ausführliche 'Begleitheft' bietet neben den Texten mit Übersetzung eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der vorliegenden Rezitation mit einem Abriß der griechischen Rhythmik. Die Aufführung ist darauf angelegt, nicht, wie allgemein bei Rezitationen griechischer Lyrik üblich, einfach die metrischen Werte des Textes zu reproduzieren, sondern diese nur zur Grundlage des Rhythmus zu machen, wie schon Aristoxenos fordert, der Verfasser der frühesten uns teilweise erhaltenen Rhythmik. Eine solche Rhythmisierung erfolgt durch die Änderung der metrischen Zeiteinheiten, vor allem durch die Dehnung von Längen auf mehr als zwei Zeiten. Sie muß, wie auch G. betont, oft spekulativ bleiben, bringt uns aber dem antiken Rhythmus vielfach näher als die bloße Metrik des Textes.
G. hat dabei nach eigenen Aussagen zunächst selbständig eine rhythmische Deutung des Textes versucht (30, "Übersetzung des metrischen Schemas in Notenwerte" ist allerdings offenbar gerade nicht, was sie meint), um ihr System schließlich bei R. Westphal, Griechische Rhythmik und Harmonik, Leipzig 1867, wiederzufinden. Auf dieses Werk stützt sich auch ihre knappe Zusammenfassung antiker Rhythmik. Dabei fehlt freilich nicht nur die Bezugnahme auf die einschlägige Forschung der letzten 130 Jahre, die Westphals Thesen fast durchwegs als zumindest überzogen abgetan hat, auch Westphals eigene 'Griechische Rhythmik' von 1885 wird nicht herangezogen (30 Anm. 2: "Westphals Theorie gilt zwar nach neuerem Stand der Forschung in einigen Teilen als überholt, jedoch ließ sie sich durch meine Analysen der rhythmischen Gesetzmäßigkeiten in den vorliegenden Rezitationen in vielem deutlich bestätigen."). So kommt es auch zu fundamentalen Irrtümern: Die Aussage etwa "in irrationalen Größenverhältnissen bleibt nach Aristoxenos die 2:1-Relation zwischen Länge und Kürze bestehen, jedoch nur, wenn auf eine betonte Länge innerhalb desselben Taktes eine Kürze folgt" (32) hat zumindest in ihrem zweiten Teil nichts mit Aristoxenos zu tun, sondern es handelt sich um eine nicht weiter begründete Erfindung Westphals.
Die Rhythmisierung griechischer Metrik kann auf zwei Ziele hin erfolgen: (a) die Taktgleichheit, d. h. die regelmäßige Abfolge von Schlägen im Sinne moderner Musik, und (b) die Tanzbarkeit, d. h. das Vermeiden des Zusammenstoßens zweier gleicher Taktteile, des in moderner Rezitation für antike Verse so typischen 'Umklappens' des Rhythmus. Während G. das erste Prinzip hervorhebt und damit die Dehnung und Kürzung der Grundwerte in einem Ausmaß strapaziert, für das die antiken Texte keinerlei Anhaltspunkt bieten (derselbe Standpunkt bei L. Pearson, Aristoxenus, Elementa Rhythmica, Oxford 1990), legt sie weniger Gewicht auf die Tanzbarkeit. Selbst in den Anapästen der Parodos des Agamemnon klappt bei der Rezitation der Rhythmus überall dort um, wo die Anapäste durch Daktylen ersetzt sind, was auf den Tanz umgelegt bedeuten würde, daß sich ein Fuß zweimal senken muß, bevor sich der andere heben kann. Dies entspricht sicher nicht antiker Praxis, eher wohl ist es im Zusammenhang mit dem Bestreben G.s zu sehen, den 'Iktus', den die antike Theorie nicht kennt, möglichst deutlich durch einen Druckakzent zum Ausdruck zu bringen, der aber der griechischen Sprache fremd war. Fest steht jedenfalls, daß Chorlieder getanzt wurden, und daß daher ἄρσις und βάσις einander abwechseln sollten; daß dies über weite Strecken in gleichen Takten erfolgte, ist in Anbetracht der metrischen Vielfalt sehr unwahrscheinlich. Wo G. über die konkrete Inszenierung der Texte spricht, vermengt sich rhythmische Theorie mit Konzepten der Regie. Über die Anwendung der Westphalschen Prinzipien im einzelnen erfahren wir wenig, mehr über den Einsatz des Finger-Schnipsens zur Unterstreichung der nagenden Sorgen der argivischen Greise (36). Völlig verläßt G. den Anspruch auf authentischen Rhythmus, wo Teile des Chorliedes in einen 'Kanon' aufgelöst werden (37f., "in der fünften Strophe liegt v. 218b – 220 wieder eine Kanonpassage vor"), ein 'Echo' eingesetzt wird, schließlich sogar die Responsion zwischen Strophe und Gegenstrophe rhythmisch aufgelöst wird (37). Natürlich soll hier nicht dem modernen Regisseur die Freiheit abgesprochen werden, mit dem metrischen Material nach Gutdünken zu verfahren; nur sollte die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Rekonstruktion, einfühlender Rekonstruktion und sicher modernen Elementen klar bleiben, zumindest nicht Aristoxenos als Gewährsmann für letztere herangezogen werden.
Die Performances selbst können durch ihre exakte Ausführung durchaus beeindrucken. In jedem Falle ist der Mut zu begrüßen, sich von der Metrik ab und der Rhythmik zuzuwenden. Trotz dieser unüblichen Neuerung wird das Klangbild aber kaum jemanden vor den Kopf stoßen, der an die heute im deutschen Sprachraum übliche Rezitation griechischer Verse gewöhnt ist. Wer an einer 'spritzigen' Inszenierung antiker Dramen interessiert ist, möge sich also nach Heidelberg begeben. Wer allerdings nach einer Annäherung an den originalen Klang Ausschau hält, ist mit dieser Aufnahme weniger gut beraten.
Stefan Hagel
 

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